Wahlrecht als „Vabanquespiel“: Experte hält Bundestag mit mehr als 1000 Abgeordneten für möglich

Der Bundestag könnte nach der Wahl noch einmal wachsen - laut einem Experten auf mehr als 1.000 Abgeordnete. Auch ein „gravierender Wahlrechtsunfall“ scheint möglich.
Berlin - Wird das deutsche Parlament nach der Bundestagswahl* im Herbst noch einmal größer? Nach Berechnungen eines Experten liegt eine Zahl von mehr als 1000 Abgeordneten rechnerisch im Bereich des Möglichen. „Die Bandbreite der plausibel möglichen Bundestagsgrößen läuft von etwa 650 bis mehr als 1000. Das kann man nicht ausschließen“, sagte Robert Vehrkamp, Fachmann der Bertelsmann Stiftung, der dpa.
Vehrkamp gehört auch der vom Bundestag eingesetzten Kommission zur Reform des Wahlrechts und Modernisierung der Parlamentsarbeit an - und hatte bereits vor einigen Tagen in einer Studie vor einer möglichen „mehrheitsverzerrenden Wirkung“ der jüngsten Wahlrechtsreform gewarnt. Aktuell läuft in Karlsruhe eine Klage gegen die von Angela Merkels GroKo verabschiedete Novelle.
Bundestagswahl: Extremfall mit mehr als 1000 Abgeordneten möglich - „mehrheitsverzerrender“ Unfall nicht unwahrscheinlich
Eine genaue Vorhersage zur Bundestags-Größe ist nach Vehrkamps Darstellung jedoch nicht möglich. „Was in der Diskussion häufig übersehen wird: Es kommt nicht nur auf das Zweitstimmenergebnis an. Mindestens genauso stark hängt es vom Stimmensplitting ab, wie viele Überhangmandate es geben wird. Und das Splittingverhalten ist noch unkalkulierbarer als die Zweitstimmenvergabe.“
So könnten beispielsweise die Grünen* etwa doppelt so viele Zweitstimmen* bekommen wie bei der Wahl 2017. „Wir wissen aber nicht, wie dann das Splittingverhalten der Grünen-Wähler aussieht.“ Würden etwa 20 Prozent von ihnen - etwa aus alter Verbundenheit - ihre Erststimme der Union geben, habe das „einen enormen Hebeleffekt“, sagte Vehrkamp. „Dann ist man je nach Szenario schnell bei 880, 950 oder im Extremfall sogar bei über 1000 Mandaten. Das muss nicht so kommen, ist aber möglich. Das geltende Wahlrecht ist mit Blick auf die Größe des Bundestages ein echtes Vabanquespiel.“
In einem Beitrag auf der Webseite wie-gross-wird-der-bundestag.de hatte Vehrkamp jüngst auch auf ein Szenario hingewiesen, in dem Überhangmandate für die Union unausgeglichen bleiben - und dadurch eine Stimmenmehrheit für eine Ampel-Koalition* in eine „Mandatsminderheit verkehrt“ würde. „Das Kippen einer knappen Zweitstimmenmehrheit durch drei im Wahlrecht absichtsvoll implementierte Überhangmandate ohne Ausgleich wäre beim derzeitigen Umfragetrend noch nicht einmal unwahrscheinlich“, warnt er. Der Experte sprach in diesem Kontext von einem „gravierenden Wahlrechtsunfall“.
Bundestag vor schwerer Legislaturperiode? Experte warnt vor Problemen in Riesen-Parlament
Vehrkamp hat aus dem jüngsten ARD-„Deutschlandtrend“ vom Donnerstag (5. August)* (CDU/CSU: 27 Prozent, Grüne: 19, SPD: 18, FDP: 12, AfD: 10, Linke: 6) mit drei verschiedenen Splittingszenarien die Größe des Bundestags errechnet. Je nach Szenario kommt er auf 695, 851 oder 978 Abgeordnete. Die Normgröße des Bundestags beträgt 598 Mandate. Seit der Wahl 2017 zählt er 709 Abgeordnete - so viele wie nie zuvor.
Die Größe des Bundestags habe enorme Auswirkungen auf seine Arbeits- und Politikfähigkeit, sagte der Wahlforscher. „Ein zu großer Bundestag verschlechtert die Qualität des Politikbetriebs.“ Selbst die Regierungsbildung könne davon beeinflusst werden. „Je größer die Fraktionen, umso schwerer könnte es werden, knappe Mehrheiten zu organisieren und für die Dauer der Legislaturperiode stabil zu halten.“ (dpa/fn) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
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