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Die andere Zeitenwende: Das Jahr, in dem die deutschen China-Illusionen geplatzt sind

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Von: Sven Hauberg

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Das Jahr 2022 hat der deutschen Politik die Augen geöffnet: Nicht nur Russland ist das Problem, auch unser Umgang mit China muss sich ändern. Sechs Lehren für die Zukunft.

München/Peking – Wer nach einem Datum sucht, an dem Deutschland die rosarote Brille endgültig abnahm, durch die es über Jahrzehnte auf China geblickt hatte, der hat die Wahl. Der 24. Februar 2022 böte sich an, jener Tag, an dem russische Panzer die Grenze zur Ukraine überquerten, die westliche Welt schockiert auf Putins Angriffskrieg blickte – und China schwieg. Vielleicht aber sollte man noch ein paar Wochen zurückgehen, zum 4. Februar vergangenen Jahres, als der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping und Russlands Präsident Wladimir Putin in Peking eine unheilvolle Allianz gegen den Westen schmiedeten und sich ihrer gegenseitigen Unterstützung versicherten – komme, was da wolle.

Schon drei Tage nach Beginn des Ukraine-Kriegs erklärte Olaf Scholz, der russische Überfall „markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“. Im Laufe dieses Jahres dämmerte Scholz und vielen anderen in der Bundesrepublik, dass sich da noch eine zweite Zeitenwende anbahnt: im Umgang mit dem autoritären Regime in China.

Xi Jinping und Wladimir Putin
Xi Jinping hat sich 2022 erneut zum Parteichef wählen lassen – und hält weiterhin zu Russlands Präsident Putin. © AFP (Montage)

Russland und China: In beiden Fällen war es politische Naivität, vor allem aber eine große wirtschaftliche Abhängigkeit, die den Deutschen die Augen verschloss. An „Wandel durch Handel“ – jenen Wunschtraum, dass China freiheitlicher werden würde, wenn nur genug Dollars und Euros zwischen der Volksrepublik und dem Westen flössen – glaubte zwar schon lange fast niemand mehr. Aber doch an ein Weiter-so und daran, dass man mit einem Land auch dann Handel treiben kann, wenn es die eigenen Werte mit Füßen tritt. Diese Illusion der Merkel-Jahre ist jetzt geplatzt. Die Ampel, vor allem Grüne und FDP, blickt deutlich nüchterner als die Vorgänger-Regierung auf China. Der Fall Russland hat gelehrt, wie fatal es sein kann, sich abhängig zu machen von einem unberechenbaren Staat. Und die deutschen Abhängigkeiten von China sind noch weitaus gewaltiger als jene von Russland.

„Russland ist der Sturm, China der Klimawandel“, sagte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang Mitte Oktober. Wer wollte, hätte das längst wissen können. Beides aber, Russlands Truppenaufmärsche an der Grenze zur Ukraine und Chinas Feldzug gegen den Westen, wollte man in Deutschland einfach nicht bemerken, obwohl man es hätte sehen können. 2022 hat sich das geändert.

Sechs Lehren, die man aus jenem Jahr ziehen kann:

I: China hält weiterhin zu Russland

Es war sicherlich nur ein Zufall, eine Laune der Terminplaner. Dennoch war es ein Tag voller Symbolkraft: Nur Stunden, bevor der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Kongress in Washington eine historische Rede gehalten hat, traf sich in Peking Staats- und Parteichef Xi mit dem russischen Ex-Präsidenten und Putin-Getreuen Dmitri Medwedew. An jenem 21. Dezember dankte Selenskyj dem amerikanischen Volk für seine Unterstützung im Kampf gegen die russische Invasion, Xi hingegen bat Medwedew, dem russischen Präsidenten Putin freundliche Grüße zu bestellen.

Noch zu Beginn des Krieges waren die Hoffnungen allenthalben groß, China könne auf Russland einwirken, das Land dazu bewegen, seine Soldaten zurück nach Hause zu rufen. Manch einer, wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, scheint das noch immer zu glauben. Längst aber hat sich bei den allermeisten die Erkenntnis durchgesetzt, dass Peking Putin gewähren lässt.

Die Schuld an dem Krieg – den Chinas Politiker und Staatsmedien stets nur „Krise“ nennen – gibt Peking den USA und der Nato, nicht den russischen Invasoren. Peking drängt zwar auf ein Ende des Krieges und fordert Verhandlungen, übernimmt aber keinerlei Schritte in diese Richtung. Stattdessen wird Chinas Führung nicht müde, ihre „felsenfeste“ Freundschaft zu Russland zu betonen, sie hofiert die Kriegsverbrecher aus dem Kreml – und kauft günstiges Öl und Gas aus Putins Riesenreich. Das Leiden der Menschen in der Ukraine ist Peking egal.

Die deutsche China-Strategie

Im Frühjahr will die Koalition die erste deutsche Strategie zum Umgang mit China vorstellen. Wie diese aussehen könnte, zeigt ein Entwurf aus dem Auswärtigen Amt, der vor Kurzem durchgestochen wurde. So soll die Einhaltung der Menschenrechte maßgeblich bei der künftigen Ausgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen sein, zudem sollen wirtschaftliche Abhängigkeiten „zügig und mit für die deutsche Volkswirtschaft vertretbaren Kosten“ verringert werden. Der Dreiklang von China als Partner, Wettbewerber und Systemrivale, wie er bereits im Koalitionsvertrag anklingt, soll einen Zusatz bekommen: „Die beiden letzteren Aspekte gewinnen jedoch zunehmend an Gewicht.“ Wie unkoordiniert die deutsche China-Politik derzeit noch ist, zeigte sich im Herbst, als die Regierung über zwei Übernahmen zu entscheiden hatte. Da wurde die chinesische Beteiligung an einem Terminal des Hamburger Hafens genehmigt, nicht aber die Übernahme der Fertigung eines eher unbedeutenden deutschen Chip-Herstellers.

II. China träumt von einer neuen Weltordnung

Wenn Chinas Kommunistische Partei alle fünf Jahre in der Großen Halle des Volkes im Zentrum von Peking zu ihrem Parteitag zusammenkommt, geht es um die Weichenstellungen für die kommenden Jahre. Nicht minder wichtig aber ist es der leninistischen Führungselite, sich selbst auf die Schulter zu klopfen und sich der eigenen Größe zu versichern. „Chinas internationaler Einfluss“, sagte Xi Jinping zu Beginn des Parteikongresses im Oktober, „seine Anziehungskraft und Gestaltungskraft haben sich deutlich verbessert.“ Was Xi damit meinte: China ist auf dem besten Wege, zur weltweiten Supermacht zu werden, die Dominanz der USA zu brechen. Spätestens 2049, wenn die Volksrepublik den 100. Jahrestag ihrer Gründung begeht, soll es so weit sein.

Über Jahrzehnte hat China von der Nachkriegsordnung, wie sie die USA und ihre Verbündeten geschaffen haben, profitiert; Hunderte Millionen Chinesen konnten sich so aus der Armut befreien. Das China des Xi Jinping aber will die internationale Ordnung jetzt selbst formen, nach seinen Vorstellungen. Nicht mehr die USA sollen das alleinige Sagen haben, sondern viele Länder gemeinsam. Konkret bedeutet das aber auch, dass sich neue Allianzen bilden, wie jene zwischen China und Russland. Und dass ein zunehmend selbstbewusstes China seine Ansprüche immer rücksichtsloser durchsetzt. Etwa im Südchinesischen Meer, wo Peking mehrere Atolle besetzt hält, die laut internationalem Schiedsspruch zum Staatsgebiet der Philippinen gehören. Oder in der Straße von Taiwan, wo China immer martialischer auftritt und Kampfflugzeuge in die Luft schickt, um die Regierung in Taipeh einzuschüchtern. Auch in der von China anvisierten multipolaren Welt gilt das Recht des Stärkeren. Und China rüstet auf.

III. Chinas Drohungen gegenüber Taiwan werden schärfer

Es war schon spät am Abend an jenem 2. August 2022, nach 22 Uhr, als Nancy Pelosi an Bord einer Boeing C-40C der US-Luftwaffe auf Taipehs Flughafen Songshan landete. Unter anderem Taiwans Außenminister Joseph Wu nahm die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses und Nummer drei in der Washingtoner Polit-Hierarchie in Empfang, später folgten Gespräche mit Präsidentin Tsai Ing-wen. Der erste Besuch einer derart hochrangigen US-Politikerin in Taiwan, das China als abtrünnige Provinz betrachtet, war eine Provokation für Peking. Nur Stunden, nachdem Pelosi wieder abgereist war, ließ China Raketen über Taiwan fliegen, begann das größte Militärmanöver, das die Region seit Jahren gesehen hat.

China will sich das demokratisch regierte Taiwan, das nie Teil der Volksrepublik war, einverleiben. Die Taiwan-Frage, sagte Xi Jinping im Oktober, solle möglichst friedlich gelöst werden, „aber wir werden niemals versprechen, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten, und wir behalten uns die Möglichkeit vor, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen“. Neu ist das alles nicht, bislang aber nahmen viele die Drohungen der Volksrepublik nicht wirklich ernst. Es war der Ukraine-Krieg, der gezeigt hat, dass Angriffskriege noch immer traurige Realität sind, dass auch eine Invasion Taiwans im Bereich des Möglichen liegt.

Die USA unterstützen Taiwan längst mit Waffenlieferungen, und mehrfach betonte Joe Biden, das Land auch militärisch verteidigen zu wollen, sollte es zum Ernstfall kommen. Denn sollte Taiwan fallen, dann wäre das das Ende für die amerikanische Dominanz im Indopazifik, würde das Ansehen der Supermacht bei ihren Verbündeten empfindlich leiden. Auch der Weltwirtschaft stünde ein Drama bevor, denn es sind Firmen aus Taiwan, die Unternehmen auf der ganzen Welt mit den modernsten Mikrochips versorgen, die derzeit technisch möglich sind. Weltweit, auch in Deutschland, stünden Produktionsanlagen still.

Das China-Geschäft der deutschen Wirtschaft

2021 wurden laut Statistischem Bundesamt Waren im Wert von 246,5 Milliarden Euro zwischen Deutschland und China gehandelt. Damit war die Volksrepublik zum sechsten Mal in Folge unser wichtigster Handelspartner. Auch 2022 boomte der wirtschaftliche Austausch zwischen Deutschland und China, allen Krisen zum Trotz. So begann etwa BASF vor Kurzem mit dem Bau eines neuen Standortes in der Provinz Guangdong – bis 2030 sollen dort zehn Milliarden Euro investiert werden. Die deutsche Wirtschaft warnt unterdessen vor zu viel Distanz zu China. „Wir haben sicherlich gelernt durch die Erfahrungen mit Russland, dass wir uns nicht blauäugig in Abhängigkeiten hereinstürzen dürfen“, sagt etwa DIHK-Präsident Peter Adrian. „Aber aus dieser Erkenntnis heraus sollte man keine 180-Grad-Wende machen. China ist nach wie vor für uns ein ganz wichtiger Wirtschaftsraum.“

IV. Xi Jinping greift nach der absoluten Macht

Wie man sich in einem Menschen täuschen kann. Als Xi Jinping 2012 an die Macht kam, galt der neue Parteichef vielen Beobachtern, auch im Westen, als Hoffnungsträger. Als einer, der Kontinuität versprach, der Chinas Wachstumskurs fortsetzen würde, der mit der Korruption aufräumt. Heute weiß man es besser.

Xi Jinping ist der mächtigste chinesische Herrscher seit Mao Zedong. Er hat sich über die Begrenzung der Amtszeiten für Chinas oberste Anführer hinweggesetzt, sich im Oktober ein zweites Mal im Amt des Parteichefs bestätigen lassen. Vor allem aber hat er das Modell der kollektiven Führung abgeschafft, das verhindern sollte, dass sich die Macht zu sehr bei einem Einzelnen konzentriert. Seit dem Parteitag im Oktober ist Xi nur noch von loyalen Ja-Sagern umgeben. Ideologische Standfestigkeit ist für ihn nun das Maß aller Dinge, nicht mehr die wirtschaftliche Kompetenz.

Eine Bewährungsprobe steht Xi allerdings noch bevor: Im kommenden März, bei der Tagung von Chinas Scheinparlament, will er sich auch als Staatspräsident bestätigen lassen. Zudem soll sein enger Vertrauter, Shanghais Parteichef Li Qiang, neuer Ministerpräsident werden. Dass die Partei ihm die Gefolgschaft verweigert, scheint indes unwahrscheinlich. Denn die innerparteiliche Opposition, die es über Jahrzehnte auch bei Chinas Kommunisten gab, hat Xi ausgeschaltet.

V. China verfolgt eine chaotische Corona-Politik

Was es bedeutet, wenn ein einziger Mann sämtliche Entscheidungen trifft, kann man in China derzeit wie unter einem Brennglas beobachten. Drei Jahre lang hatte Xi Jinping seinem Volk eingebläut, dass es keine Alternative gebe zu seiner Null-Covid-Politik – und damit zu Lockdowns, Massentests und Zwangsquarantäne. Anfang Dezember dann die plötzliche Kehrtwende: China öffnete die Schleusen, das Coronavirus verbreitet sich seitdem in rasender Geschwindigkeit im ganzen Land. Chinas Staatsmedien, die zuvor noch gewarnt hatten, man dürfe das Virus nicht verharmlosen, sprechen auf einmal davon, dass Corona nicht gefährlicher sei als eine Grippe. Xi hatte – wohl unter dem Eindruck der Proteste von Ende November – über Nacht seine Meinung geändert. Ausbaden muss das ein Land, das nicht vorbereitet ist auf eine neue Viruswelle.

Zu Beginn der Pandemie war es China gelungen, das Virus in Schach und damit auch die Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Ankunft von Omikron verlangte dann aber knallharte Lockdowns, um ein Ausbreiten der hochansteckenden Virusvariante zu verhindern. Also wurden ganze Millionenstädte abgeriegelt, im Frühjahr etwa die Metropole Shanghai. Das bekam die Weltwirtschaft zu spüren, als Lieferketten ins Stocken gerieten und sich vor dem Hafen von Shanghai die Containerschiffe stauten. Auf einmal war China kein verlässlicher Partner mehr.

Nun könnte sich, dank Xi Jinpings erratischer Politik, die Geschichte wiederholen. Zwar verpflichten mehrere Städte die Menschen, auch mit leichten Corona-Symptomen zur Arbeit zu gehen. Wenn aber Dutzende Millionen Menschen gleichzeitig infiziert sind und krank werden, dann dürfte der chinesische Wirtschaftsmotor ins Stottern geraten. Und all das nur, weil Xi Jinping es so will. Ideologie schlägt Vernunft, auch hier.

Diversifizierung statt Abkoppelung

Anfang November flog Olaf Scholz nach Peking und traf sich dort mit Staatschef Xi Jinping. Mit an Bord der Kanzlermaschine waren Vertreter von einem Dutzend deutscher Unternehmen, der Kurztrip zu Xi sorgte auch deshalb allenthalben für Kritik. Den Kanzler ficht das nicht an, er sieht sich auf dem richtigen Weg. Die Lösung, aus seiner Sicht: eine Diversifizierung der Lieferketten, aber keine vollständige Abkoppelung von der Volksrepublik. „Dort aber, wo riskante Abhängigkeiten entstanden sind – etwa bei wichtigen Rohstoffen, manchen seltenen Erden oder bestimmten Zukunftstechnologien –, stellen unsere Unternehmen ihre Lieferketten nun zu Recht breiter auf“, schrieb Scholz in einem Beitrag für die FAZ. „Wir unterstützen sie dabei.“ Scholz‘ Plan: Deutsche Unternehmen sollen in anderen asiatischen Ländern wie Vietnam oder Singapur vermehrt investieren – „China plus eins“ lautet das Gebot der Stunde.

VI. Chinas Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang lassen sich nicht mehr ignorieren

Heyringul Ghuji, 22 Jahre alt. Abdukerim Abdurasul, 28. Gulnisa Eziz, 66: Es sind Hunderte Gesichter, die einen ausdruckslos anblicken. Im Frühjahr 2022 veröffentlichten mehrere Medien unter dem Namen „Xinjiang Police Files“ fast 3000 Aufnahmen von Menschen, die in der chinesischen Provinz Xinjiang inhaftiert worden waren. Dass Chinas Regierung im Nordwesten des Landes Umerziehungslager betreibt, ist schon länger bekannt. Erst waren es nur Satellitenaufnahmen und Ausschreibungsdokumente, dann Zeugenaussagen, schließlich sogar ein Eingeständnis Pekings, dass es die Lager gibt. Wobei die chinesische Regierung weiterhin behauptet, die Menschen säßen freiwillige in den Zentren, um dort „ausgebildet“ zu werden. Menschenrechtler aber sagen: Hunderttausende Uiguren und andere Angehörige ethnischer Minderheiten werden gegen ihren Willen festgehalten. Die „Xinjiang Police Files“ gaben ihnen nun ein Gesicht.

Längst beschäftigen sich auch die Vereinten Nationen mit dem, was etwa die US-Regierung als „Völkermord“ brandmarkt. „Das Ausmaß der willkürlichen und diskriminierenden Inhaftierung von Angehörigen der Uiguren und anderer überwiegend muslimischer Gruppen“, heißt es in einem im Sommer veröffentlichten Bericht der damaligen UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, „könnte internationale Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darstellen.“ Die USA und andere Staaten haben viele der Verantwortlichen für die Lager bereits mit Sanktionen belegt, zudem Importe aus Xinjiang faktisch unterbunden. Deutschland hingegen zögert noch. Annalena Baerbock hatte in ihrer ersten Rede als Außenministerin eine „wertegeleitete Außenpolitik“ angekündigt. Was das bedeutet, wird sich auch im Umgang mit den Verbrechen, die Chinas Regierung in diesem abgelegenen Flecken Erde begeht, zeigen müssen.

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