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Trotz EU-Milliardenhilfe: So stark wird dieser Winter den Ukraine-Krieg verändern

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Von: Marie Ries, Nils Tillmann

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Der Winter läutet im Ukraine-Krieg eine neue Phase ein.
Kampf im Winter: Die nächsten Monate im Ukraine-Krieg werden hart. © Anatolii Stepanov/AFP (Montage: Litzka)

Zugefrorene Flüsse und wenig Tageslicht: Die kalte Jahreszeit läutet im Ukraine-Krieg eine völlig neue Phase ein. Wie der Winter der ukrainischen Armee nutzen, aber der Bevölkerung schaden könnte.

Eine erste Schneedecke liegt über Kiew. Weiß zugedeckt sind nun die zerstörten russischen Panzer, die in der ukrainischen Hauptstadt zur Steigerung der Moral ausgestellt sind. Aber auch Kinder spielen in diesen Tagen warm eingepackt mit Schneebällen in den Straßen. Bilder, die zeigen: Der Winter ist in der Ukraine angekommen. Und wie unsere Analyse zeigt, wird dieser auch massiven Einfluss auf das kommende Kriegsgeschehen haben. Truppenbewegungen, Waffen, Kampfmoral und Ausrüstung: Die nächsten Monate werden anders, als viele glauben. Dies zeigen unter anderem Daten der Militärs, der Wetterdienste und internationaler Experten.

Milliarden-Hilfe für die Ukraine im Winter

Die internationale Gemeinschaft hat bereits reagiert und unterstützt die Ukraine mit einer Winter-Soforthilfe von gut einer Milliarde Euro. Diese Summe kam am Dienstag bei einer internationalen Unterstützerkonferenz für das vom russischen Angriffskrieg schwer getroffene Land in Paris zusammen. Im Fokus der Hilfen stehe die Instandsetzung der stark beschädigten Strom- und Wärmeversorgung, sagte Frankreichs Außenministerin Catherine Colonna. So kamen in Paris allein 415 Millionen Euro für die Aufrechterhaltung der Energieversorgung zusammen. Weitere Hilfe fließt in die Wasserversorgung, das Transport- und Gesundheitswesen sowie den Ernährungsbereich. „Wir haben mit der Hilfe einen direkten Einfluss auf das Leben von Millionen Menschen.“

Feuerpause trotz klirrender Kälte nicht wahrscheinlich

Trotz klirrender Kälte gilt eine Feuerpause in diesem Winter als unwahrscheinlich. Stattdessen könnten die Kämpfe nach Einschätzung der Militärexperten vom Institute for the Study of War (ISW) sogar an Fahrt zunehmen. Denn im Winter ist der Untergrund für schwere militärische Gefährte günstig. Der harte Boden erlaubt Panzern und Lastwagen ein wesentlich leichteres Vorankommen als die schlammigen, nassen Bedingungen in Frühjahr und Herbst.

Kämpfe bei zweistelligen Minusgraden im Ukraine-Krieg

Doch was bedeutet Winter eigentlich in einem Land wie der Ukraine? Die Temperaturen erreichen zwischen Dezember und Februar häufig tiefe Minusgrade. Die Durchschnittstemperatur liegt zwischen Lwiw und Luhansk anders als in Deutschland deutlich unter dem Gefrierpunkt, wie unsere Visualisierung zeigt. Als tiefster Wert stand vergangenes Jahr sogar -31,5 Grad Celsius auf dem Thermometer.

In vielen Regionen können sogar ganze Flüsse zufrieren. Das kommt auch der Ukraine zupass, die zuletzt mehr in der Rolle des Angreifers war. Der Winter wird so die oft schwierige Überquerung der zahlreichen Gewässer des Landes deutlich erleichtern. Aber auch Russland könnte bei möglichen neuen Offensiven die Eisdecken für sich nutzen. Eine Herausforderung für beide Seiten stellt allerdings bereits jetzt der Schneefall dar. Dadurch kommen Truppen und Fahrzeuge langsamer voran und ihr Treibstoffbedarf steigt.

Russischen Truppen mangelt es an Ausrüstung und Training

Im Umgang mit Eis und Schnee wird die richtige Ausrüstung in diesem Krieg eine entscheidende Rolle spielen. Das wissen auch die ukrainische Armee und die Nato-Staaten. Die Bundesregierung unterstützte beispielsweise unter anderem mit 100.000 Kälteschutzjacken, 240.000 Wintermützen und 100 Feldheizungen. Auch tausende Nachtsichtbrillen erhielt die Ukraine. Den russischen Truppen soll es hingegen genau an dieser Art von Ausrüstung mangeln.

Die Kälte kann auch Maschinen und Geräten massiv zusetzen. Ein Beispiel dafür sind die iranischen Kamikaze-Drohnen, die seit Herbst eine immer größere Rolle in der russischen Kriegsführung spielen. Zwischen November und Dezember kam es unvermittelt zu einer wochenlangen Pause im Einsatz der Drohnen. Denn die Technik der Drohnen musste während dieser Zeit erst an die kälteren Witterungsbedingungen angepasst werden, wie Analysten des ISW vermuten.

Schlüssel zum militärischen Erfolg unter diesen harschen Bedingungen ist zudem eine gute Ausbildung der Truppen: Von vereistem Boden können Schrapnelle zusätzlich abprallen und Soldaten verletzen. Ebenso können Waffen vereisen und selbst die Flugbahnen von Kugeln verlaufen in kalter Luft anders. Auch in dieser Situation könnte die russische Armee im Nachteil sein. Die seit dem Sommer eingezogenen russischen Reservisten sind teils bereits nach minimaler Ausbildung und trotz fehlender Ausrüstung an die Front geschickt worden. Das könnte zu einer schlechten Moral in der Truppe führen. Eine Übersicht über die Entwicklungen an den Fronten während der nächsten Monate finden Sie immer in unseren tagesaktuellen Karten zum Ukraine-Krieg.

„Kälte als Waffe“ gegen die Zivilbevölkerung

Auch für die Zivilbevölkerung bringt der Winter schwerwiegende Folgen mit sich. Die kalten Monate werden für Millionen von Menschen in der Ukraine lebensbedrohlich sein, wie die World Health Organization (WHO) warnt. Seit Herbst greift Russland die Energieinfrastruktur der Ukraine massiv an. Dadurch sind immer wieder Landesteile ohne Strom, Wärme oder Wasser. Laut dem ukrainischen Netzbetreiber UKRENERGO produzierte die Ukraine Ende Oktober lediglich halb so viel Strom wie Ende Januar. In den folgenden Wochen wurden zahlreiche Umspannwerke, Kraftwerke und Leitungen von Angriffen beschädigt.

Bei den Attacken auf die zivile Infrastruktur handelt es sich nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International um Kriegsverbrechen. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich wirft Russland vor, „Kälte als Waffe“ einzusetzen. Vorläufige Abhilfe sollen in diesem Winter unter anderem Wärmestuben schaffen. Diese beheizten Schutzräume bieten Strom, Wasser, Internet und medizinische Versorgung. Über 4000 sollen über das ganze Land hinweg eingerichtet werden. Allein in Kiew gibt es bereits hunderte solcher Räume, wie unsere Visualisierung zeigt.

Trotzdem bleibt die Lage für viele Menschen in der Ukraine kritisch. Die ukrainische Regierung bittet ins Ausland geflüchtete Menschen daher, außerhalb des Landes zu überwintern. Kiew setzt dennoch weiter alles daran, auch im Winter den russischen Angreifern zu trotzen. „Wir haben etwas, was der Besatzer nicht hat und nicht haben wird. Wir schützen unser Zuhause, und das gibt uns die größtmögliche Motivation“, sagte Selenskyj.

Wenn der Winter vorbei ist, warten bereits neue Probleme für die Armeen

Auch wenn die Temperaturen schlussendlich im Frühjahr wieder über den Gefrierpunkt klettern, wird das Wetter ein bedeutender Faktor im Ukraine-Krieg bleiben. Denn dann sorgt die Schneeschmelze für große Schlammflächen und steigende Flusspegel. Bereits in den ersten Kriegswochen hatte dies ein wesentliches Hindernis für die russische Invasion dargestellt. Immer wieder blieb damals schweres Kriegsgerät im schlammigen Boden stecken und wurde zu einem leichten Ziel für ukrainischen Beschuss. Im Russischen heißt diese Zeit „Rasputiza“ – was so viel bedeutet wie die Zeit der Wegelosigkeit.

Transparenz: Unsere Daten, Quellen und Methoden

Daten zum Klima in der Ukraine haben wir für diesen Text in den Datenbanken des Deutschen Wetterdienstes und des Climate Change Knowledge Portals der Weltbank analysiert. Der Tiefstwert des vergangenen Jahres basiert auf einer Angabe des Boris Sreznevski Observatoriums in Kiew. Bei der Analyse der Auswirkungen auf das Kriegsgeschehen stützen wir uns auf Einschätzungen von Militärexperten des Institute for the Study of War und des Royal United Services Institute sowie auf Informationsmaterialien der US-Armee und der Bundeswehr zu Kämpfen in Kälteregionen. Angaben zu deutschen Ausrüstungslieferungen an die Ukraine stammen von der Bundesregierung. Informationen zur Zerstörung des ukrainischen Stromnetzes stammen von der International Energy Charta, die seit einigen Monaten Angriffe auf die Strominfrastruktur des Landes dokumentiert.

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