EU-Fluchtexperten warnen: Russland nutzt Migration als Waffe, um „die Schwächen Europas auszunutzen“

Geflüchtete werden in Europa immer wieder als Druckmittel eingesetzt. Asylexperten der EU warnen im Gespräch mit IPPEN.MEDIA vor einer möglichen Putin-Strategie.
Straßburg – Russland zerbombt in der Ukraine zivile Infrastruktur. Russische Raketen landen immer wieder in Wohnhäusern, sodass viele Menschen aus dem Kriegsgebiet flüchten. Ist das eine bewusste Strategie des Kreml, um die EU zu destabilisieren? Es wäre nicht das erste Mal, dass Staaten Geflüchtete als Druckmittel einsetzen, sagen Asylpolitiker der EU im Gespräch mit IPPEN.MEDIA.
Migration als Waffe? „Eine Strategie, Europa auszunutzen“
„Wenn man sieht, wie gerade gezielt die Infrastruktur der Ukraine zerstört wird, hat man schon den Eindruck, dass Russland die Menschen in der Ukraine total desillusionieren will“, meint die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel. Sie gestaltete die europäische Gesetzgebung zu Migration und Asyl aktiv mit. „Und natürlich kann man sich vorstellen, dass da hinter auch die Idee steckt, dass noch mehr Menschen in die EU fliehen und uns das auch Probleme bereiten soll.“ Probleme, wie auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015, als die EU teils kopflos und überfordert agierte.
Auch der Grünen-Politiker und Migrations- und Fluchtexperte Erik Marquardt sieht „eine Strategie, mit Fluchtbewegungen die Schwächen Europas auszunutzen“. Russland versuche, die EU durch Flüchtlingsbewegungen zu destabilisieren. „Es ist ein Ziel von Putin, dass immer mehr Menschen durch die Attacken auf Infrastruktur fliehen müssen.“ Der Erfolg dieser Strategie hänge jedoch „nicht davon ab, wie viele Menschen fliehen müssen, sondern ob wir im Umgang mit Fluchtbewegungen noch rechtsstaatliche Antworten geben“.

Die Antwort der EU ist die sogenannte temporäre Schutzrichtlinie. Dadurch brauchen Ukrainerinnen und Ukrainer in Europa kein Asylverfahren, kein Visum. So soll den Menschen schneller und unbürokratischer geholfen werden. Die Vereinten Nationen gehen von 7,9 Millionen registrierten ukrainischen Geflüchteten seit Kriegsbeginn aus.
Die CDU-Politikerin Lena Düpont, Vorsitzende des Frontex-Kontrollgremiums und migrationspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, sieht darin ein geopolitisches Signal, mit dem Putin nicht gerechnet habe: „Wir lassen uns nicht unter Druck setzen und werden unserem Anspruch an humanitäre Hilfe für die Menschen gerecht.“ Bei der Solidarität mit der Ukraine ist sich die EU tatsächlich weitgehend einig. In der Vergangenheit sorgten jedoch bereits deutlich weniger Geflüchtete für Panikstimmung.
Belarus als Russland-Vorbote: Lukaschenkos erfolgreicher Flüchtlings-Druck auf die EU
In der EU gibt es aktuell einen Gesetzesvorschlag zum Umgang mit Instrumentalisierung von Geflüchteten. Das Vorhaben ist eine Reaktion auf den Migrationskonflikt mit Belarus. Russlands Nachbarland um den Machthaber Alexander Lukaschenko hatte Geflüchtete vergangenes Jahr mit falschen Versprechungen nach Europa gelockt und sie unter anderem an der polnisch-belarussischen Grenze gezielt verharren lassen. „Um Europa unter Druck zu setzen“, wie SPD-Politikerin Sippel sagt. „Und was ich schlimm finde: Das ist ja gelungen.“ Europa reagierte in einer Art Hauruck-Politik: „Im Grunde haben Kommission und Mitgliedsstaaten gesagt: Ja, ihr könnt uns unter Druck setzen, indem ihr Menschen an unsere Grenzen bringt“.

CDU-Politikerin Düpont sieht in den Ereignissen in Belarus einen Vorboten für die aktuelle Situation mit Russland. „Das war eine Art Vorfeldversuch, der zeigen sollte, wie die Mitgliedsstaaten auf Migrationsdruck reagieren. Natürlich verfolgte das auch klar russische Interessen.“
Derzeit gibt es Berichte über eine neue Strategie Lukaschenkos. Nach Angaben von Litauen sollen belarussische Behörden Migranten dazu anhalten, bei kaltem Wetter barfuß zu versuchen, die EU-Grenze illegal zu überqueren. Damit solle Druck auf den litauischen Grenzschutz ausgeübt werden.
Migration als Druckmittel: Serbien „nicht so weit entfernt von Instrumentalisierung“
In anderen Ländern werden Geflüchtete ebenfalls als Druckmittel eingesetzt. EU-Beitrittskandidat Serbien hat Visaabkommen mit Tunesien, Indien oder Burundi. Serbien sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, Menschen aus diesen Ländern in die EU zu lassen, da ihre Regierungen das von Serbien unabhängige Kosovo nicht anerkennen. Laut Düpont ist das „gar nicht so weit entfernt von Instrumentalisierung“. Marquardt verweist darauf, dass es diese Abkommen teils schon seit Jahren gebe, sie aber bisher noch nicht genutzt wurden.
Serbien scheint derzeit noch nicht so recht zu wissen, wie es sich künftig politisch orientieren möchte. Seit zehn Jahren will das Land de facto in die EU, gleichzeitig ist gerade in jüngster Zeit eine Art Pendel-Politik mit Putin-Russland zu beobachten. „Serbien versucht ein bisschen, von beiden Seiten – EU und Russland – zu profitieren“, meint Düpont.
Griechenland, Ungarn, Kroatien: Gewalt gegen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen
Einen mitunter eigenwilligen Umgang mit Geflüchteten fahren auch einige EU-Staaten. Marquardt war mehrmals vor Ort in Griechenland. „Dort gibt es völlig unverhältnismäßige Gewalt. Menschen werden nackt ausgezogen und in Flüsse geworfen oder nachts in türkischen Gewässern ausgesetzt. Der Tod von Menschen wird in Kauf genommen, damit sie kein Asyl in Europa beantragen können.“ Das UN-Flüchtlingshilfswerk geht von 300 ertrunkenen oder vermissten Personen seit Jahresbeginn aus. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Gewalt gegen Geflüchtete gibt es auch an der kroatisch-bosnischen Grenze. Das Antifolterkomitee des Europarates schreibt in seinem Bericht zu Kroatien von „körperlichen Misshandlungen von Migranten durch kroatische Polizeibeamte“. Flüchtlinge werden an den EU-Außengrenzen zudem teils durch Pushbacks zurückgedrängt, etwa in Ungarn.
Pushback
Pushback bezeichnet das meist gewaltvolle Zurückdrängen von Migranten an der jeweiligen Grenze. Sie gelten als illegal, wenngleich der Begriff juristisch nicht abschließend geklärt ist.
Diese Praktiken sind mehrfach dokumentiert. Laut einem Bericht der EU-Antibetrugsbehörde OLAF wusste die EU-Grenzschutzagentur Frontex von all dem Bescheid. Geflüchtete bleiben ein Druckmittel und avancieren zu politischen Spielbällen, dabei sind sie vor allem eines: Menschen.
Aus Straßburg berichtet Andreas Schmid
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