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Russlands Krieg in der Ukraine: Bringt 2023 die Wende?

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Von: Christiane Kühl, Anna-Katharina Ahnefeld

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Zehn Monate nach Kriegsausbruch in der Ukraine ist ein Ende der Kampfhandlungen nicht absehbar. Wird sich das 2023 ändern?

Kiew/Moskau – Glaubt man Wladimir Putin, gibt es in Russland keinen Mangel. Nicht an frischen Soldaten und vor allem nicht an finanzieller Unterstützung der Armee. Das behauptete der russische Machthaber bei der live übertragenen Jahresabschlusstagung der Militärführung zur „speziellen Militäroperation“, wie der Invasionskrieg in der Ukraine im Kreml genannt wird. So versprach Putin, die Armee auf 1,5 Millionen Soldaten zu vergrößern. Das würde etwa 350.000 zusätzliche Rekruten bedeuten. „Das Land und die Regierung stellen alles zur Verfügung, worum die Armee bittet“, so der Staatschef. Die Botschaft ist eindeutig: Auch 2023 wird Russland mit voller Kraft gegen die Ukraine Krieg führen. So schwor Wladimir Putin die Vertreter des Verteidigungsministeriums auf einen Sieg ein: „Ich bin sicher, dass wir Schritt für Schritt alle unsere Ziele erreichen werden“.

Parallel dazu reiste der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj zu einem ersten bekannten Auslandsbesuch seit Kriegsbeginn in die USA. Beim Treffen mit Präsident Joe Biden kurz vor Weihnachten gab der Ukrainer sich ebenfalls siegesgewiss. In seiner Rede vor beiden Kammern des US-Kongresses zeigte er sich überzeugt, dass der „Unabhängigkeitskrieg“ der Ukraine mit einem „absoluten Sieg“ enden werde. Was das heißt, das haben Selenskyj und seine engen zivilen und militärischen Mitarbeiter stets klargemacht: Eine Rückkehr zu den Grenzen von 2014, also vor der Annexion der Halbinsel Krim und den Kampfhandlungen im Donbass. Immer wieder betonen Politiker in Kiew, dass es 2023 eine Wende im Krieg geben werde.

Russlands Krieg in der Ukraine: Bringt 2023 die Wende? Erfolgreiche USA-Reise für Selenskyj

„Dies ist der Anfang vom Ende des Krieges“, sagte Wolodymyr Selenskyj, als er sich kurz nach der Befreiung der Stadt Cherson vor Ort ein Bild der Lage machte. Von seiner USA-Reise konnte der Präsident derweil mit gut gefüllten Taschen heimkehren. Joe Biden sicherte der Ukraine das hochmoderne Patriot-System zur Raketenabwehr zu und legte noch eine milliardenschwere Finanzspritze obendrauf. Washington werde Kiew unterstützen, „so lange es nötig ist“, betonte der US-Präsident am Mittwoch Ortszeit.

Ein ukrainischer Rettungssanitäter und ein Soldat inspizieren das Gebiet, nachdem am 20. November 2022 inmitten der russischen Invasion in der Ukraine ein Angriff auf ein Ölreservoir in Cherson verübt wurde.
Russlands Krieg in der Ukraine geht in das zweite Jahr: Wird 2023 eine Wende bringen? © Bulent Kilic/afp

Doch wie lange wird es nötig sein? Ist ein Ende des Krieges im Jahr 2023 realistisch? Das hängt von vielen Faktoren ab – von militärischen Erfolgen und Durchhaltevermögen der Ukrainer ebenso wie von der politischen Lage im Umfeld Putins und der fortdauernden Bereitschaft des Westens, der Ukraine Militärhilfe zu leisten. Verhandlungen der Kriegsparteien erscheinen unrealistisch, solange Putin der Ukraine ihr Existenzrecht abspricht. Praktisch alle Militärexperten gehen davon aus, dass Russland einen Waffenstillstand nur dazu nutzen würde, seine Truppen in Ruhe zu verstärken, um dann erneut loszuschlagen. Auch deshalb lehnt Selenskyj Gespräche mit Putin ab. Russland kommt für ihn erst nach dem Ende der Präsidentschaft Putins als Gesprächspartner infrage. Das Vertrauen in Russlands Präsidenten ist auch in Washington und in den meisten Hauptstädten Europas auf Tiefststand. Solange Russland weiterhin versucht, die Ukraine oder Teile von ihr zu erobern, wird der Krieg fortgeführt werden.

Wie lange Russland das durchhält, hängt wiederum davon ab, wie sehr dieser erste Winter im Ukraine-Krieg den russischen Truppen zusetzen wird. Während die ukrainischen Truppen im Herbst Gelände zurückgewinnen konnten, ist Russlands Militär mit Ausrüstungs- und Nachschubproblemen konfrontiert. Es soll an Winterausrüstung und -Kleidung ebenso mangeln wie an der Moral. Auch, wenn Wladimir Putin etwas anderes behauptet. Doch letztlich entscheidet eben Putin – und Russlands Präsident klingt nicht nach einer Aufgabe seiner „Spezialoperation“. Zuletzt wurden gar Spekulationen lauter, Putin könne im neuen Jahr erneut einen Sturm auf Kiew wagen.

Ukraine: Manche sehen Russland am Ende – doch Selenskyj-General warnt davor, Moskau zu unterschätzen

Doch zumindest in der Ukraine sehen manche Russland längst am Ende. „Wenn man Großangriffe zählt, dann bleiben ihnen maximal zwei bis drei, vielleicht können sie Raketen für vier zusammenkratzen“, sagte der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, Olexij Danilow, am 19. Dezember der Ukrajinska Prawda. Informationen wie diese sind wiederum schwer zu verifizieren.

In einem kürzlichen Interview mit dem britischen Economist waren sich Selenskyj und seine beiden Oberbefehlshaber General Valery Zaluzhny und General Oleksandr Syrsky jedoch einig, dass die nächsten Monate über den Ausgang des Ukraine-Krieges entscheiden werden. Sie zeigten sich überzeugt, dass Russland eine neue Großoffensive vorbereitet, die schon im Januar beginnen könnte. Die Generäle warnten davor, die russische Armee zu unterschätzen. „Sie sind nicht schwach. Und sie haben ein sehr großes Potenzial an Menschen“, sagte Syrsky. „Irgendwo hinter dem Uralgebirge bereiten sie neue Ressourcen vor“, führte der General weiter aus. So wie es die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg tat, als die Nazis einmarschiert waren.

Die Frage ist, wie die Ukraine mit dieser Bedrohung umgeht: Wagen sie einen Gegenangriff, lassen sie die Russen kommen, um sie dann vor Ort zu schlagen? Darüber sprechen die Strategen verständlicherweise nicht. Und über allem schwebt die Frage: Wie viele Waffen werden sie dafür zur Verfügung haben? Zumindest die ukrainische Online-Zeitung The Kyiv Independent gibt sich zuversichtlich: „Der Krieg startet ins Jahr 2023, mit einem leichten Vorteil der Ukraine gegenüber dem stark dezimierten russischen Militär, vor allem dank der umfangreichen westlichen Militärhilfe. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die nächsten Monate des Winters und des Frühjahrs 2023 für den allgemeinen Ausgang des Krieges entscheidend sein werden.“

Bringt 2023 das Kriegsende in der Ukraine? „Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Kämpfen“

Die meisten Kriege der Geschichte gingen irgendwann durch Verhandlungen und einen Waffenstillstand zu Ende. Meistens weil eine Partei zusammenbrach, manchmal weil der Krieg in einem tödlichen Stillstand verharrte. In der Ukraine ist bisher keiner dieser Zustände erreicht. „Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Kämpfen“, schrieb Selenskyjs Stabschef Andriy Yermak Mitte Dezember in einem Gastbeitrag für den Economist. „Daher ist die Ansicht einiger westlicher Politiker, dass man sich als Erstes an einen Verhandlungstisch setzen muss, damit in der Ukraine Frieden herrschen kann, ein grundlegender Irrtum.“

Erst müssten Bedingungen erfüllt sein, darunter die Wiederherstellung der ursprünglichen Grenzen, Sicherheitsgarantien für die Ukraine durch den Westen, Schutz der ukrainischen Infrastruktur, ein Ende der nuklearen Bedrohung oder ein Austausch aller Gefangener, einschließlich der laut Yermak knapp drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die in die russisch besetzten Gebiete verschleppt worden seien. Dass diese Bedingungen in ein paar Monaten erfüllt sind, ist wenig wahrscheinlich.

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