Fälschungsskandal um Top-Psychologen: Staatsanwaltschaft ermittelt

Vor zwei Jahren hatte BuzzFeed News über Fälschungsvorwürfe gegen einen Dresdner Psychologie-Star berichtet. Nun hat eine Untersuchungskommission Hinweise auf Fehlverhalten zutage gefördert – und die Staatsanwaltschaft Dresden ermittelt.
Von Hristio Boytchev
Als all die anderen Drohungen nicht greifen, versucht es Professor Hans-Ulrich Wittchen beim Rektor seiner Universität. „Lieber Hans, mir fällt es inzwischen schwer „lieber“ zu schreiben“, beginnt Wittchen, einer der prominentesten Psychologie-Professoren Deutschlands, in einer E-Mail an den damaligen Rektor der TU Dresden.
Der Rektor solle die Untersuchung stoppen, die gerade gegen ihn angelaufen ist. Sonst gebe es, so schreibt Wittchen, ein bundespolitisches Erdbeben. Die Untersuchung der TU Dresden gegen Wittchen behindere ein wichtiges Gesetzgebungs-Projekt. Das könne „Wut und massiven Ärger in Berlin“ auslösen und sich auch auf die Universität auswirken. „Ich möchte Dich [...] noch einmal persönlich und vertraulich davor warnen, dass Du hier ein extremes Risiko eingehst.“ Die Mail von April 2019 endet mit: „halte Dich aus dem Projekt raus! Herzliche Grüße, Uli“
Ein Fälschungsskandal rund um eine 2,4 Millionen Euro-Studie – und 1000 Seiten Dokumente
Die Drohung ist Teil von rund 1000 Seiten Dokumenten, die BuzzFeed News Deutschland* zu einem der mutmaßlich größten deutschen Forschungsskandale der vergangenen Jahre vorliegen. Und die mittlerweile nicht mehr nur eine Untersuchungskommission der TU Dresden beschäftigen, sondern auch die Dresdner Staatsanwaltschaft. Es geht um die angebliche Manipulation einer Psychologie-Studie, die die Behandlung von Patienten in ganz Deutschland verändern sollte. Und es geht um 2,4 Millionen Euro aus dem Haushalt der Krankenkassen – von denen zehntausende Euro möglicherweise veruntreut wurden.
Die Dokumente zeigen, wie Wittchen versucht haben soll, mit der Manipulation wissenschaftlicher Daten davon zu kommen. Wittchen will sich BuzzFeed News gegenüber nicht zu den konkreten Vorwürfen in diesem Text äußern, da sie Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzung seien. Er beteuert aber wiederholt seine Unschuld. Die Studie sei „wissenschaftlich korrekt erstellt“. „Ich weise die Manipulations-Vorwürfe der Kommission ebenso wie die eines vorsätzlichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens als unbegründet und falsch zurück“, schreibt Wittchen. Er habe zudem „zu keinem Zeitpunkt unkorrekte Abrechnungen erstellt oder unzulässige Vertragsbeziehungen begründet“.
BuzzFeed News machte die Fälschungsvorwürfe erstmals Anfang 2019 öffentlich
Erstmals öffentlich werden die Vorwürfe gegen Wittchen im Februar 2019. Damals berichtet zunächst BuzzFeed News Deutschland. Hans-Ulrich Wittchen ist Herausgeber eines Standard-Lehrbuchs in klinischer Psychologie und langjähriger Institutsdirektor an der TU Dresden. Und ausgerechnet er soll eine von den Krankenkassen geförderte, millionenschwere Studie manipuliert haben.
Von der Studie sollte eigentlich abhängen, welche psychiatrischen Einrichtungen in Deutschland in Zukunft wie viel Personal bekommen. Dazu haben die Forscher um Wittchen zahlreiche Kliniken untersucht. Doch von den 93 Kliniken, die untersucht werden sollten, seien tatsächlich nur etwa 73 wirklich erfasst worden, so steht es im Abschlussbericht der Untersuchungskommission – für den Rest seien auf Wittchens Anleitung Daten unter anderem verdoppelt worden. Erst als sich zwei Whistleblower beim Ombudsmann der TU Dresden melden, gerät der mutmaßliche Betrug ins Wanken.
Der Star-Forscher soll Hinweisgeber unter Druck gesetzt haben
Im Bericht ist zu lesen, wie Wittchen der Kommission ihre Zuständigkeit abstreitet. Wie er die Originaldaten erst heraus gibt, als ihn ein Gericht dazu zwingt. Wie er die Whistleblower erst unter Druck setzt und dann anfleht, ihn zu verschonen. Wie er einen ehemaligen Staatsminister als Anwalt beauftragt. Wie er Kollegen Gutachten schreiben lässt, die ihn entlasten sollen – ohne dass die Kollegen dafür Zugriff auf die Daten bekommen. Und wie er offenbar auch dann noch täuscht, als ihm die Kommission längst auf die Schliche gekommen ist.
Nach zweijährigen Ermittlungen geht die Kommission von einer schwerwiegenden Manipulation aus. „Aufgrund ihrer Untersuchungen kommt sie zu dem Schluss, dass die Verstöße nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich begangen worden sind.“ Die Kommission formuliert zudem den Verdacht, dass Wittchen Dokumente manipuliert haben könnte, um zu beweisen, dass alles rechtens war – darunter Präsentationsfolien, Vermerke und womöglich sogar Unterschriften von Kliniken.
Der Professor verteidigt sich gegen die Betrugsvorwürfe auf 70 Seiten
Wittchen kämpft bis heute weiter um seinen Ruf. Der Endversion der Untersuchung liegt eine 70-seitige Stellungnahme von ihm bei, in der er jegliche Unredlichkeit abstreitet.
Derweil untersucht die Universität zusätzliche Korruptionsvorwürfe. Der Rechtsanwalt der TU Dresden prüft rechtliche Schritte, eine Entscheidung soll ab Mitte April getroffen werden. Der Auftraggeber, der Gemeinsame Bundesausschuss, klagt wegen der immer noch nicht abgenommenen Studie.
Seit Ende Februar ist auch die Staatsanwaltschaft Dresden mit den Vorwürfen befasst. Wittchen gibt an, sich im Februar selbst angezeigt zu haben. Aus „ermittlungstaktischen Gründen“ gibt die Staatsanwaltschaft auf eine schriftliche Anfrage von BuzzFeed News keine Details der Ermittlungen preis, auch nicht zu ihrem Gegenstand – außer, dass sie andauern und noch „einige Zeit in Anspruch nehmen“ werden. Und dass sie schon liefen, bevor Wittchens Anzeige – im März – einging.
Wittchen ist nicht mehr an der TU Dresden. Seit 2017 hat er eine Gastprofessur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dort hat er eine Forschungsgruppe geleitet, die der Uni zufolge extern finanziert worden sei. Nach dem Bekanntwerden der Anschuldigungen und der Stellungnahme habe sich die Universität entschieden, den Gastwissenschaftlervertrag mit Wittchen ab dem April 2021 aufzulösen, teilt die Sprecherin mit. „Herr Prof. Wittchen hat der Vertragsauflösung nicht zugestimmt, so dass das Vertragsverhältnis nun ohne Vergütung ruhen gelassen wird.“ Die Pressemeldung von 2017, mit der die Professur verkündet worden war, ist seit wenigen Wochen von der Webseite der Universität verschwunden.*BuzzFeed News Deutschland ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
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