Arbeitgeber verzögern neue Regeln für Coronavirus-Schutz auf der Arbeit
Unternehmen fordern „genügend Beinfreiheit“ in der Coronakrise und wollen den Arbeitsschutz daher verschlechtern statt verbessern.

Fast ein halbes Jahr währt die Corona-Krise nun. Doch zum Schutz von Arbeitnehmern gibt es in Deutschland noch immer keine einheitlichen, verpflichtenden Vorgaben. Zwar hat das Bundesarbeitsministerium schon Mitte April einen „Sars-CoV-2-Arbeitsschutzstandard“ mit Empfehlungen erstellt, doch dieser enthält ganz oft das Wort „sollte“ und nur sehr selten das Wort „muss“. Bereits seit Ende April verhandeln Experten im Bundesarbeitsministerium daher über eine bundesweit gültige und verpflichtende Arbeitsschutzregel. Doch die Arbeitgeberseite verzögern das Vorhaben, wie Recherchen Buzzfeed News Deutschland und der Süddeutschen Zeitung zeigen; manche Verbände versuchen die Krise sogar dazu zu nutzen, den Arbeitsschutz noch weiter herunter- statt hochzufahren.
Im Gegensatz zum zahnlosen Arbeitsschutzstandard enthält die geplante verbindliche Arbeitsschutzregel klare Vorgaben, wie Unternehmen ihre Arbeitnehmer vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 zu schützen haben. Dabei geht es vor allem um grundsätzliche Dinge: um das Einhalten des 1,5-Meter-Abstandes, um Maskenpflicht, um die richtigen Bedingungen im Home-Office, um die Trennung von Arbeitsplätzen, um Übertragungen zu verhindern oder bessere Lüftungssysteme und häufigere Reinigung.
Der Entwurf, der BuzzFeed News und Süddeutscher Zeitung vorliegt, stammt von Anfang Juli, er sollte eigentlich bis Ende Juli final abgestimmt werden. Aber ob das gelingt, ist fraglich. Zwei der fünf Arbeitsschutzausschüsse des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) haben bislang offenbar noch nicht zugestimmt. In den Ausschüssen treffen Arbeitgeber und Gewerkschaften mit Wissenschaftlern und Vertretern von Landesarbeitsschutzbehörden sowie der gesetzlichen Unfallversicherung aufeinander. Die Beratungen hielten „derzeit noch an“, teilt das BMAS auf Anfrage mit. Und: „Die Ergebnisse bleiben abzuwarten.“
Der Entwurf der geplanten Coronavirus-Regel des BMAS
Widerstand kommt von den Arbeitgebern
Vor allem die Arbeitgebervertreter sind gegen den Entwurf, wie internen Schreiben zu entnehmen ist. So heißt es in einem Brief der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) von Ende Mai: Der Entwurf für die Corona-Arbeitsschutzregel lasse sich „noch stark kürzen und auf das Wesentliche beschränken“. Und weiter: „In Hinblick auf das dringend notwendige vollständige Wiederhochfahren der Wirtschaft, müssen alle Regelungen auf praxisnahe, schnelle und unkomplizierte Umsetzbarkeit geprüft werden!“ Den Unternehmen müsse daher „genügend ,Beinfreiheit‘ bei der Umsetzung betriebsspezifischer Schutzmaßnahmen gegeben werden.“
Auf Anfrage betont die BDA, dass „der Gesundheitsschutz der Beschäftigten für alle Betriebe und Unternehmen von Anfang an von zentraler Bedeutung“ gewesen sei. Man habe sich in den Verhandlungen „konstruktiv engagiert, um eine sinnvolle und praktikable Lösung zu finden.“ Es sei aber für die Unternehmen „überlebenswichtig, auch wieder ,hochfahren‘ zu können und damit Arbeitsplätze zu sichern“. Und den bisher gültigen unverbindlichen Arbeitsschutzstandard empfänden die Arbeitgeber „als weitgehend sinnvoll und hilfreich“.
Eben dieser unverbindliche Standard gilt nun weiter, wenn es keine Einigung über die verbindlichere Arbeitsschutzregel gibt. Er wurde bereits Mitte April vom Kabinett beschlossen. Darin sind Informationen zu Abstand, Masken und Lüftung zusammengetragen, die laut BMAS „den Schutz der Beschäftigten beim Wiederanfahren der Wirtschaft nach der Lockerung der bundesweiten Kontaktsperre sicher stellen“ sollen. Ob Unternehmen diesen Empfehlungen folgen, bleibt aber ihnen überlassen.
Bisher gibt es für den Schutz nur Empfehlungen
Die Empfehlungen sind vage formuliert und in Zusammenarbeit mit den Unternehmen entstanden. So hatte ein Staatssekretär aus dem BMAS die größten deutschen Unternehmen am 2. April in einer Telefonschalte um Hinweise gebeten, wo ihnen Klarheit fehlt oder wo neue Standards gesetzt werden müssten. Rückmeldungen erbat sich das Ministerium bis zum 6. April. Zehn Tage später veröffentlichte es seine sechsseitige Empfehlung. Auf Anfrage betont das BMAS, dass für die Anpassung des Arbeitsschutzstandards an die epidemische Lage alle Sozialpartner Experten entsandt hätten, also Arbeitgeber- ebenso wie Arbeitnehmervertreter.
Nicht bindend ist auch eine Arbeitsmedizinische Empfehlung zum Umgang mit Beschäftigten, die ein erhöhtes Risiko haben, wenn sie an Covid-19 erkranken. Darin werden Arbeitsumfelder in vier Gruppen eingeteilt, von geringer Gefährdung (zum Beispiel ohne jeglichen Kundenkontakt) bis zu sehr hoher Gefährdung (etwa im Gesundheitswesen, wenn bei infizierten Patienten Proben entnommen werden). Im Anschluss werden 14 Gruppen von Vorerkrankungen aufgelistet und wie mit ihnen je nach Gefährdung umgegangen werden sollte, von neurologischen Erkrankungen bis zu Transplantationen. Die Empfehlung wurde in der vergangenen Woche nach ebenfalls langer Verzögerung verabschiedet; eigentlich hätte sie schon Mitte Juni beschlossen werden sollen.
Dabei ist sich die Arbeitgeberseite offenbar auch nicht einig. Während manche Branchen wie die Chemiebranche, die gut durch die Pandemie gekommen sind, positiv auf die Neuregelungen reagieren, scheinen einige der größten deutschen Unternehmen den Schutz für Arbeitnehmer während der Pandemie nicht verbessern zu wollen. Im Gegenteil: Sie sehen die Corona-Krise sogar als Anlass, den Schutz zu verschlechtern.
„Unternehmen möglichst große Spielräume einräumen“
In einem Papier des Verbandes Gesamtmetall, der unter anderem die deutschen Autokonzerne vertritt, hieß es im Mai, dass „grundsätzlich auf normative Regelungen so weit wie möglich verzichtet werden“ sollte: Es sei wichtig, „den Unternehmen möglichst große Spielräume bei der Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen einzuräumen und die unternehmerische Freiheit nicht (oder minimal) durch Vorgaben im Arbeitsschutz einzuschränken.“ Die Überwachung müsse „pragmatisch und mit Augenmaß durchgeführt werden“. Außerdem sei es nötig „bestehende Dokumentationsanforderungen zu verringern.“
Die derzeit von Corona-Infektionen besonders gebeutelte Fleischindustrie drängt dagegen auf klarere Regeln: „Der Arbeitsschutzstandard des BMAS von Mitte April entspricht nicht mehr dem Erkenntnisstand“, teilt der Verband der Fleischindustrie (VFA) auf Anfrage mit. Von Beginn der Krise an habe der VFA seinen Mitgliedsunternehmen zwar „Empfehlungen für den Infektionsschutz der Beschäftigten gegeben“, doch bundeseinheitliche Corona-Regelungen seien „sehr sinnvoll und wichtig“ – auch „damit für die Unternehmen Klarheit darüber herrscht, welche Maßnahmen in ihren Betrieben notwendig und sinnvoll sind.“
Sollte der erhöhte Standard die letzten beiden Ausschüsse nicht passieren, ist sein Schicksal ungeklärt – und auch der Umgang mit dem Infektionsrisiko für die Arbeitnehmer. Eigentlich hatten viele Akteure aus dem Bereich Arbeitsschutz die Pandemie auch als Chance erfahren. Sie wollten die Corona-Krise nutzen, um hohe Standards für die Beschäftigten zu schaffen. Doch nun ist schon sehr viel Zeit vergangen – und mit den derzeit relativ geringen Infektionszahlen wird der Druck auf die Arbeitgeber geringer.
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