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BuzzFeed News geht gegen MeToo-Urteil in Berufung

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Das Berliner Landgericht hat unsere Veröffentlichung zu Vorwürfen gegen einen Arzt bis auf Weiteres untersagt – wir kämpfen dafür, dass wir wieder berichten dürfen.

BuzzFeed News und Vice haben Berufung gegen ein Urteil des Landgerichtes Berlin eingelegt. Die Pressekammer des Landgerichtes hatte am 29. Oktober im einstweiligen Verfügungsverfahren entschieden, dass wir eine gemeinsame Recherche zu schwerwiegenden Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen einen Arzt nicht weiterverbreiten dürfen. Es handele sich um eine unzulässige Verdachtsberichterstattung.

Die Richter*innen zweifeln in ihrem Urteil nicht an dem hinreichenden Mindestbestand an Beweistatsache oder dem öffentlichen Interesse an der Berichterstattung. Stattdessen argumentieren sie, die Art der Veröffentlichung sei vorverurteilend und „in dieser Form in den Massenmedien der deutschen Presselandschaft unüblich“. Gegen diese Art der inhaltlichen Bewertung unserer Berichterstattung legen wir Berufung ein.

Wenige Tage nach unserer Veröffentlichung hatte der Anwalt des Arztes eine einstweilige Verfügung beantragt, die das Gericht ohne Anhörung der beiden Redaktionen erlassen hatte. Seitdem sind die Beiträge offline. Gegen die Verfügung hatten BuzzFeed News und Vice zunächst in der ersten Instanz Widerspruch eingelegt.

Zur Verteidigung hatten wir dem Gericht neben eines gut 40-seitigen Schriftsatzes auch ein mehrseitiges Rechercheprotokoll sowie zahlreiche Belege für die Vorwürfe vorgelegt. Sechs mutmaßlich betroffene Personen versicherten die Vorwürfe mit einer Eidesstattlichen Versicherung. Am 29. Oktober bestätigte die Pressekammer des Berliner Landgerichtes ihre Entscheidung jedoch nach einer mündlichen Verhandlung. Die Recherche bleibt bis zu einem Urteil der zweiten Instanz, des Berliner Kammergerichtes, vorerst offline. Mit einem Urteil ist nicht vor Februar oder März 2020 zu rechnen.

Ausreichend belegt aber vorverurteilend

Während der erstinstanzlichen Verhandlung Ende Oktober hatte der Vorsitzende Richter bestätigt, dass die von uns veröffentlichten Vorwürfe ausreichend belegt seien und auch das öffentliche Interesse an der Berichterstattung sehe er als gegeben. Auch habe der Betroffene ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Jedoch sei die Berichterstattung vorverurteilend, durch die Art, wie sie geschrieben sei. Ein Leser müsse zwangsläufig zu der Erkenntnis kommen, dass die erhobenen Vorwürfe stimmten, sagte der Vorsitzende Richter in der Verhandlung. Das sei aber noch nicht erwiesen.

Während der Verhandlung beschimpfte der Anwalt des Arztes die Reporter*innen und Redakteure mehrfach und unterstellte ihnen, zu lügen.

In der Urteilsbegründung, die mittlerweile vorliegt, führt das Berliner Landgericht die Gründe für die Entscheidung genauer aus. Zwar hätten wir durchgängig den Konjunktiv sowie die Worte „mutmaßlich“ und „offenbar“ verwendet. Diese sieht das Gericht jedoch nur als „rein kosmetische [...] Stilelemente“. Sie führten beim Leser „nicht zu der Annahme, dass der Arzt möglicherweise unschuldig ist bzw. die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht zutreffen könnten“. Auf Grund der textlichen Darstellung würde dies schlichtweg überlesen, argumentiert das Gericht.

In unseren Beiträgen haben wir nicht nur durchgängig den Konjunktiv verwendet, sondern auch 48 Mal das Wort „mutmaßlich“. „Mehr gibt die deutsche Sprache nicht her“, sagte unser Medienrechts-Anwalt Jan Hegemann von der Kanzlei Raue während der mündlichen Verhandlung in Berlin. Er argumentierte, wenn der Leser zu der Ansicht komme, dass der Arzt möglicherweise schuldig sei, dann liege das nicht an den Formulierungen im Text, sondern an der Fülle an Belege und Indizien, die unsere Redaktionen zusammengetragen haben.

Der Leser gerate zwangsläufig in die Stellung eines „Voyeurs“

Gerade die Ausführlichkeit und Fülle der dargebrachten Belege kritisiert das Gericht in seiner schriftlichen Urteilsbegründung. In dem Urteil wird die detailreiche Schilderung von fünf mutmaßlich betroffenen Männern kritisiert. Es handele sich um Aussagen, „deren inhaltliche Wiedergabe wegen ihres ausführlichen, sehr intimen Bezugs zur Sexualität und den Genitalien der betroffenen Personen in dieser Form in den Massenmedien der deutschen Presselandschaft unüblich ist“, so das Gericht. Der Leser gerate zwangsläufig in die Stellung eines „Voyeurs“, eine Distanzierung zu den Aussagen erfolge nicht. „Der Leser wird nicht darauf aufmerksam gemacht, dass die Äußerungen nicht als wahr feststehen“, so das Gericht.

Die Redakteur*innen hätten zwar sorgfältig und außerordentlich fleißig recherchiert, doch die „ausschließliche Wiedergabe von Belastungsmaterial“ entspreche einem journalistischen Schuldspruch. Die Artikel vom 7.9.219 enthielten „durchweg den Antragsteller belastendes Material“, so dass der Leser keinen Zweifel mehr daran haben könne, dass die Vielzahl der erhobenen Vorwürfe wahr seien, so das Gericht. Die Berichterstattung sei deshalb anprangernd und vorverurteilend.

Keinesfalls, so das Gericht, könne „eine journalistische Recherche ein von Polizei und Staatsanwaltschaft durchgeführtes Ermittlungsverfahren und erst recht nicht ein gerichtliches Strafverfahren ersetzen.“

Auch die Überschriften kritisierte das Gericht. BuzzFeed News und Vice hatten die Beiträge unter den Titeln „Sie haben ihm vertraut“, „Hinter verschlossener Tür“ und „Der Nächste bitte“ veröffentlicht. Diese zeigten, „dass es vorliegend um die Aufdeckung eines deutschen "Me Too"-Skandals von unerhörten Dimensionen geht“, heißt es in dem Urteil.

„Ich freue mich, dass das Gericht deutlich gemacht hat, dass unsere Beiträge sehr gut recherchiert worden sind und dass es bestätigt hat, dass das öffentliche Interesse an einer Berichterstattung gegeben ist“, sagte Daniel Drepper, Chefredakteur von BuzzFeed News. „Was mich sehr erstaunt: Dass das Gericht offenbar darüber entscheiden möchte, wie eine solche Berichterstattung auszusehen hat. Unsere gerade für die vielen Patient*innen extrem relevante Recherche muss offline bleiben, weil das Gericht findet, sie sei in einer für die deutsche Presselandschaft nicht üblichen Form präsentiert.“

Rund 35 weitere mutmaßliche Opfer melden sich

Seit Erscheinen der Recherche haben sich mehr als 40 weitere Personen telefonisch oder per Email bei BuzzFeed News gemeldet, um uns weitere Informationen zu den mutmaßlichen Übergriffen zu geben. Über 35 dieser Personen sagten, dass sie selber Opfer von mutmaßlichen Übergriffen geworden seien – die Vorwürfe erstrecken sich bis in den Zeitraum 2019. Auch diese Information wurde dem Landgericht Berlin zur mündlichen Verhandlung vorgelegt.

Drei Personen haben sich seit der Veröffentlichung bei BuzzFeed News gemeldet, um mitzuteilen, sie seien Patienten des Arztes und hätten dort keine Übergriffe erlebt. Sie seien mit Behandlung sehr zufrieden.

Sobald es Neuigkeiten zu dieser Recherche und dem dazugehörigen Rechtsstreit gibt, werden wir hier sowie auf unseren Kanälen auf Twitter und Facebook dazu berichten.

Wer uns Hinweise oder Informationen zu dieser Recherche geben möchte, kann sich jederzeit an juliane.loeffler@buzzfeed.com wenden oder uns telefonisch unter 030 275 90 866 erreichen.

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