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Coronavirus: Erzieherinnen häufig betroffen, aber selten entschädigt

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Von: Daniel Drepper

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Auf dem Bild ist Spielzeug zu sehen sowie im Hintergrund eine ältere Erzieherin mit Kindern
Kita-Erzieher:innen haben es besonders schwer, sich auf der Arbeit vor dem Coronavirus zu schützen. Trotzdem haben bislang kaum Erzieher:innen ihre Covid-19-Infektion als Berufskrankheit gemeldet. © Uwe Anspach / dpa

Kita-Erzieher:innen erkranken besonders häufig am Coronavirus, melden diese Erkrankung aber bisher nur selten als Berufskrankheit. Das zeigen Recherchen von BuzzFeed News.

Wer jeden Tag einen Haufen kleine Kinder betreut, kann sich nicht vor dem Virus schützen, das ist Irene Purschke schon wenige Wochen nach dem Beginn der Pandemie klar. „Gerade bei den kleinen Kindern kann man ja nicht einmal mit Mundschutz rumlaufen, die müssen ja unsere Mimik sehen“, sagt Purschke. Ihre Schlussfolgerung: „Wenn man schon den Abstand nicht einhalten kann, dann muss ich doch auf der anderen Seite bei Erkrankungen wenigstens eine bestmögliche Versorgung haben und bei Schäden auch entschädigt werden.

Doch für das Personal in Kindergärten ist das offenbar längst nicht immer sicher gestellt. Weniger als jede 1000ste Kita-Erzieherin hat in den vergangenen Monaten eine Infektion mit dem Coronavirus als Berufskrankheit anerkannt bekommen, zeigen aktuelle Zahlen der zuständigen Berufsgenossenschaft BGW. Dabei sind Kita-Erzieher:innen Untersuchungen zufolge die am stärksten von Covid-19 betroffene Berufsgruppe. 

Coronavirus: Auch für Erzieher:innen eine Berufskrankheit

Purschke war jahrelang selbst Erzieherin und ist heute als Personalrätin für den Gesundheitsschutz aller Erzieher:innen in Bremen zuständig. Sie weiß aus einer Befragung vor zwei Jahren, dass in den Bremer Kitas viele Frauen zwischen 45 und 58 arbeiten, auch mit Vorerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck. Und sie weiß auch, dass kranke Menschen, die eine Berufskrankheit anerkannt bekommen, besonders gut versorgt werden – möglicherweise sogar inklusive Rentenzahlung.

Im Frühsommer, als die Zahlen weit unten und die Kitas wieder komplett auf sind, beschäftigt sich Purschke eingehender mit dem Problem. Und versteht nicht, warum infizierte Kita-Erzieher:innen – im Gegensatz zu Ärzt:innen oder Pflegekräften – keine Berufskrankheit anerkannt bekommen können. Erst fast ein halbes Jahr später – in der Zwischenzeit haben sich rund eine Million Deutsche infiziert – entschließt sich die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) dazu, dass eine Corona-Infektion nun auch bei Erzieherinnen als Berufskrankheit anerkannt werden kann. Die Entscheidungen der DGUV gelten für alle Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. 

Von fast einer Million Erzieherinnen meldeten 1864 eine Coronavirus-Berufskrankheit

Doch offenbar weiß bis heute kaum jemand davon. Das zeigen Zahlen der Berufsgenossenschaft BGW, die für alle privaten Kitas in Deutschland zuständig ist. Bis zum 5. März haben sich in Deutschland nur 1864 Erzieherinnen mit einer Corona-Verdachtsanzeige bei der BGW gemeldet. Bislang sind 706 dieser Meldungen als Berufskrankheit anerkannt – bei fast einer Million versicherten Kita-Erzieherinnen in der Berufsgenossenschaft. Das schreibt die BGW auf Anfrage von BuzzFeed News. In Krankenpflege sind dagegen schon etwa 20 mal so viele Berufskrankheiten anerkannt worden – bei ähnlich vielen Versicherten.

Die geringen Zahlen sind vor allem deshalb erstaunlich, weil Kita-Erzieher:innen besonders häufig von Covid-19 betroffen sind. So zeigt eine Untersuchung der größten deutschen Krankenkasse AOK von Ende Dezember, dass in den ersten sechs Monaten der Pandemie Kita-Erzieher:innen am häufigsten von allen Berufsgruppen wegen Coronavirus-Symptomen krank geschrieben wurden – sogar noch häufiger als Mitarbeiter:innen im medizinischen Betrieb. 

Wer eine Infektion mit dem Coronavirus als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall anerkannt bekommt, hat Anspruch auf eine bessere medizinische Versorgung und bei Langzeitfolgen möglicherweise auch auf eine Rente.

Purschke sagt, dass die neue Möglichkeit bisher bei den Kolleg:innen noch überhaupt nicht angekommen sei. „Da muss eine Kampagne passieren. Warum wird das nicht viel größer aufgezogen und deutlicher gemacht?“, fragt die Personalrätin.

„Große Unwissenheit“: Beratungsstellen kritisieren Informationslücke zu Coronavirus als Berufskrankheit

Auch die drei unabhängigen Beratungsstellen für Berufskrankheiten in Bremen, Hamburg und Berlin kritisieren die fehlende Aufmerksamkeit für das Thema. In Bremen hätten bislang lediglich zwei Arbeiter:innen wegen einer Corona-Infektion die Beratungsstelle kontaktiert, schreibt der dortige Berater Niklas Wellmann auf Anfrage. Wellmann schreibt von „großer Unwissenheit“ und fordert mehr Aufklärung durch Arbeitgeber, Betriebsärzt:innen, Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsicht. 

Die Hamburger Beratungsstelle sprach in der Folge einer konkreten Veranstaltung mit insgesamt 70 interessierten Betroffenen. „Ohne die Veranstaltung hätten wir keine einzige Person in der Beratung“, schreibt die Beratungsstelle. „Der Informationsbedarf ist hier immer noch sehr hoch und es ist völlig unzureichend über das Thema informiert.“ Auch die Berliner Beratungsstelle vermutet, dass die Beschäftigten nicht ausreichend über ihre Rechte informiert sind. Beschäftigte außerhalb des Gesundheitsbereichs seien noch schlechter informiert, nur wenige würden durch Zufall davon erfahren, dass sie entschädigt werden können. 

Arbeitgeber:innen kommen ihrer Anzeigepflicht der Coronavirus-Berufskrankheiten angeblich nicht nach

Was den Berater:innen auffällt: Arbeitgeber:innen kommen ihrer Pflicht nicht nach, mögliche Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle anzuzeigen. Bislang, schreibt der Bremer Berater Wellmann „werden die Anzeigen zu Corona überwiegend von Ärztinnen und Ärzten gestellt, weniger bis gar nicht von Arbeitgebern.“ Auch den Berlinern werde immer wieder berichtet, dass Arbeitgeber:innen ihrer Verpflichtung nicht zuverlässig nachkommen würden. Gründe seien unter anderem, dass die Arbeitgeber:innen Angst hätten, einzugestehen, „dass Arbeitsschutzvorschriften nicht beachtet bzw. nicht umgesetzt wurden.“ Und dass Beschäftigte um ihre Arbeitsplätze fürchten oder Arbeitgeber:innen nicht anschwärzen wollen.

Eigentlich wären Arbeitgeber für die Meldung zuständig. Doch bis Ende Januar gab es in Deutschland bei damals rund 2,2 Millionen Infektionen mit dem Coronavirus nur knapp 65.000 Verdachtsanzeigen auf eine Berufskrankheit oder einen Arbeitsunfall. Das zeigen Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Anfrage der Linken Bundestagsabgeordneten Jutta Krellmann. Sind wirklich nur drei Prozent aller Corona-Erkrankungen in Deutschland auf eine Infektion am Arbeitsplatz zurückzuführen?

DGB zu Coronavirus-Berufskrankheiten: „Mit dieser schäbigen Praxis muss Schluss sein“

Der Deutsche Gewerkschaftsbund ermuntert Beschäftigte, selbst Anzeigen auf Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu stellen, selbst wenn sich der Arbeitgeber weigert. „Uns wird berichtet, dass Betroffene von ihrem Arbeitgeber abgewimmelt werden, wenn sie den Verdacht äußern, sich im Arbeitskontext infiziert zu haben und wollen, dass ihre Erkrankung als Arbeitsunfall beziehungsweise Berufskrankheit angezeigt wird. Mit dieser schäbigen Praxis muss Schluss sein“, schreibt DGB-Bundesvorständin Anja Piel. Der DGB empfiehlt den Betroffenen, selbst zu dokumentieren, falls Mindestabstände nicht eingehalten oder Masken nicht getragen werden konnten. „Das ist später extrem wichtig für das Anerkennungsverfahren. Diese Informationen müssen im Falle einer Erkrankung an den Unfallversicherungsträger weitergegeben werden“, schreibt Piel.

Die Gewerkschaft ver.di forderte bereits Anfang März in einer Pressemitteilung, „dass Covid-19 für alle Beschäftigten aus Arbeitsbereichen, die in direktem Kontakt zu Menschen ohne gleichzeitige Abstandsmöglichkeit stehen, als Berufskrankheit anerkannt wird.“ Die Bildungsgewerkschaft GEW, die vor allem Lehrer:innen und Erzieher:innen vertritt, fordert eine erleichterte Beweisführung auch für Arbeitsunfälle, nicht nur für Berufskrankheiten. Dann müssten die Betroffenen nur noch nachweisen, dass sie in der Arbeit längeren Kontakt zu einer oder mehrere infizierten Personen hatten und erklären, dass sie ihre sonstigen sozialen Kontakte weitgehend eingeschränkt hat. Die GEW empfiehlt ihren Mitgliedern, „sich bereits bei dem Verdacht, sich bei der Arbeit mit Covid-19 angesteckt zu haben, an den gewerkschaftlichen Rechtsschutz zu wenden.“

Linken-Abgeordnete Krellmann fordert Anerkennung von Coronavirus-Berufskrankheiten für alle

Linken-Abgeordnete Jutta Krellmann kritisiert, dass viele Erkrankte abgeblockt werden, damit die Arbeitgeber ihre Beiträge zur Unfallversicherung niedrig halten können, denn die Kosten der Unfallversicherung zahlen allein die Arbeitgeber. „Gerade weil viele Corona-Erkrankte unter krassen Langzeitfolgen leiden, brauchen sie die beste Behandlung. Deshalb muss Corona für alle Berufsgruppen als Berufskrankheit anerkannt werden.“ Die Kosten der Pandemie dürften nicht weiter den gesetzlichen Krankenkassen und damit der Allgemeinheit aufgedrückt werden.

Die Grüne Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke fordert ebenfalls eine Ausweitung der Anerkennung. „Überall dort, wo Menschen eng mit Menschen arbeiten, also in Krankenhäusern, der Sozialarbeit, im Kindergarten, in Schulen, bei der Polizei oder in Haftanstalten, und wo die Gefahr sehr groß ist, sich berufsbedingt anzustecken, muss die Covid-19-Infektion als Berufskrankheit anerkannt werden“, schreibt Müller-Gemmeke. Zudem fordert sie eine Informationskampagne der Bundesregierung. „Aufklärungsmaterial könnte beispielsweise in jedem Impfzentrum und bei allen Hausärzten ausliegen.“

FDP-Bundespolitiker Andrew Ullman glaubt nicht, dass bei der Anerkennung von Corona-Infektionen „akuter Handlungsbedarf besteht“, er schreibt aber, dass „gerade Arbeitgeber:innen darauf achten sollten, ihre Mitarbeiter:innen zu schützen.“ Arbeitgeber:innen sollten „zusammen mit den Arbeitnehmer:innen transparent über Rechte und Pflichten der Gesundheitsversorgung am Arbeitsplatz sprechen“

Die SPD-Fraktion schreibt auf Anfrage, Betroffene müssten besser informiert werden. Hinweise auf den Webseiten der Berufsgenossenschaften reichten nicht aus. „Der Hinweis auf die Möglichkeit einer Anerkennung als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall muss direkt an die Betriebe und an die Beschäftigten gerichtet werden. Aufklärung und Anerkennung sind wichtig.“

Die CDU-Fraktion im Bundestag äußerte sich nicht auf eine Anfrage von BuzzFeed News Deutschland.

Verschiedene Bundesländer arbeiten an Initiativen für mehr Anerkennung von Coronavirus-Berufskrankheiten

Verschiedene Bundesländer arbeiten bereits seit Monaten an Initiativen, die eine Anerkennung von Corona-Berufskrankheiten erleichtern soll. Die Senatskanzlei für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin erarbeitete ein entsprechendes Papier, das jedoch von Bürgermeister Michael Müller nicht unterzeichnet und somit auch nicht in den Bundesrat eingebracht wurde. In Bremen diskutiert der Senat voraussichtlich in der kommenden Woche einen entsprechenden Entwurf.

Das Bundesarbeitsministerium schreibt auf Anfrage, dass der zuständige Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten derzeit prüfe, ob in Zukunft weitere Berufe eine Infektion als Berufskrankheit anzeigen können. Konkret gibt es darauf aber bisher keine Hinweise. Auf die Hinweise, dass viele Menschen offenbar noch nicht über ihre Rechte Bescheid wissen und Arbeitgeber eigentlich verpflichtende Meldungen unterlassen, reagiert das Ministerium mit einem Verweis auf die Webseite der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung.

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