„Dann hetze ich zum Patienten und stelle fest: Du bist zu spät“
Pflegekräfte berichten BuzzFeed News und dem ARD-Magazin Plusminus von vermeidbaren Todesfällen in Krankenhäusern.
Stefanie de Vries pflegt seit 35 Jahren Menschen im Krankenhaus. Früher, sagt sie, hatte sie mehr Zeit für ihre Patienten. Heute führe die fehlende Zeit dazu, dass sie Menschen im Sterbeprozess nicht mehr angemessen begleiten könne. In der Coronavirus-Pandemie, fürchtet sie, werde das noch schlimmer.
Im Herbst 2019 hatten BuzzFeed News Deutschland und das ARD-Magazin Plusminus Menschen aus Krankenhäusern und Pflegeheimen aufgerufen, uns von gefährlichen Situationen in Kliniken und Heimen zu berichten. Insgesamt erreichten uns fast tausend Meldungen. Stefanie De Vries schrieb eine dieser Meldungen. Plusminus hat sie getroffen. Die Sendung läuft am heutigen Mittwochabend um 22.15 Uhr in der ARD.
„Also der Patient, der im Sterben liegt – der kann sich nicht mehr melden, häufig. Und dann gucke ich zur Uhr, und dann stelle ich fest: Mein Gott, es ist schon über eine Stunde her, dass du in dem Zimmer gewesen bist“, sagt de Vries. „Und dann hetze ich hin, und dann bin ich da, und dann stelle ich fest: Du bist zu spät.“
Fallpauschalen haben zum Mangel beigetragen
De Vries kann nur schwer ertragen, dass eine angemessene Sterbebegleitung kaum noch möglich ist. „Das tut uns Pflegekräften nicht gut. Dafür haben wir den Beruf nicht gelernt. Dafür haben wir die Ausbildung nicht gemacht. Wir hatten einen anderen Anspruch an uns selbst, aber dem können wir schon lange nicht mehr gerecht werden. Das geht nicht“, sagt de Vries.
Dass Pflegende heute oft nur noch von Zimmer zu Zimmer hetzen, hängt mit dem Personalmangel zusammen. Er ist auch eine Folge der Einführung der Fallpauschalen. Damit wurden seit 2003 die Leistungen der Krankenhäuser honoriert. „Im Gegensatz zu ärztlichen Leistungen kann mit den Leistungen der Pflege kein Erlös erreicht werden, sondern nur die anfallenden Kosten gedeckt werden“, sagt Professor Uwe Janssens von der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. „Und die Gehälter gerade der ärztlichen Berufsgruppen sind überproportional gestiegen. Um das auszugleichen, ist die Anzahl der verfügbaren Pflegekräfte verknappt worden.“
Seit dem 1. Januar 2020 werden die Pflegekosten im Krankenhaus deshalb nicht mehr über das Fallpauschalsystem honoriert. Sie belaufen sich auf 15 Milliarden Euro und sollen jeweils krankenhausintern verhandelt werden. Ausgehandelt haben das die Deutsche Krankenhausgesellschaft , der GKV-Spitzenverband und der Verband der Privaten Krankenversicherung. Die Beteiligten erwarten bei der Herauslösung der Pflegekosten aus den Fallpauschalen einen mehrjährigen Optimierungsprozess.
Doch bis diese Maßnahme zu merklichen Verbesserungen führen könnte, wird es dauern. Gleichzeitig verschärft die derzeitige Krise den Pflegenotstand. Die Rückmeldungen auf unsere Pflege-Recherche zeigen: Schon zuvor führte das mutmaßlich zu frühzeitigen Todesfällen in Krankenhäusern. Zahlreiche Pflegekräfte haben uns von eigentlich vermeidbaren Todesfällen berichtet, bei denen sie davon ausgehen, dass sie nicht aufgetreten wären, wäre ausreichend Personal anwesend gewesen.
Wie häufig führt der Personalmangel zum Tod?
Viele dieser Pflegekräfte geben an, sich bei ihren Vorgesetzten beschwert, danach aber keine Veränderungen bemerkt zu haben. Im schlimmsten Fall sollen sie sogar angewiesen worden zu sein, in Zukunft nicht mehr auf die Probleme aufmerksam zu machen. Manche berichten, dass ihnen nach dem Schreiben einer Gefährdungsanzeige sogar mit einer Abmahnung gedroht worden sei.
Zahlen dazu, wie häufig der Personalmangel in der Pflege zu vermeidbaren Todesfällen führt, gibt es nicht. Das teilt das Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage von ARD Plusminus und BuzzFeed News mit. Zahlreiche Studien aber zeigen: Je weniger Pflegepersonal, umso höher die Sterberate.
„Wenn man das ernst nehmen würde, dann wüsste man, dass man mehr Pflegekräfte braucht, um die Mortalitätsrate zu senken“, sagt Stefanie de Vries. „Aber wenn man das nicht tut, wenn man das nicht will: Was bedeutet das dann? Ist dann ein Leben am Ende nichts wert?“
Ob eine Überlastungssituation zu einem Todesfall geführt hat, ließe sich erheben. Pflegekräfte in Krankenhäusern sollen eigentlich so genannte Gefährdungsanzeigen schreiben, wenn sie Patienten gefährdet sehen. Bei der Besprechung eines Todesfalls in einer Klinik könnten diese Gefährdungsanzeigen hinzugezogen werden. So ließe sich ermitteln, wie viele Tote im Krankenhaus auf den Personalmangel zurückzuführen sind. Doch das findet offenbar nicht statt.
97 Prozent: Belastung deutlich zugenommen
Besonders hoch war die Arbeitsbelastung auch schon vor Corona auf den Intensivstationen. In einer Umfrage vergangenes Jahr gaben 97 Prozent der befragten Intensivpflegekräfte an, dass die Arbeitsbelastung deutlich zugenommen habe. Derzeit verschärft sich das Problem noch mal. Für die Bewältigung der Corona-Krise wurden zwar mehr Betten mit Beatmungsgeräten ausgestattet, doch es gibt nicht genügend Fachpersonal, das diese Geräte auch bedienen kann.
„In vielen Kliniken war bereits vor der Corona-Pandemie nicht genügend Pflegende auf den Intensivstationen vorhanden, um alle Betten zu betreiben“, sagt Professor Uwe Janssens von der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. „Deshalb waren in vielen Kliniken Betten gesperrt. Wenn wir mehr Intensivbetten in der Krise betreiben, wird dies mit Hilfspersonal stattfinden.“
Den Pflegenden wird nun ein Bonus - eine Einmalzahlung von 500 Euro - versprochen. Stefanie de Vries wird im Krankenhaus wieder ihr Bestes geben und hofft, dass sich nach der Corona-Krise etwas Grundlegendes verändert.
BuzzFeed News Deutschland recherchiert gemeinsam mit dem ARD-Magazin PlusMinus weiter zu gefährlichen Situationen in der Pflege. Während der Coronavirus-Pandemie wird dieses Problem besonders drängend. Meldet euch über unseren Fragebogen oder direkt unter recherche@buzzfeed.com bei uns.
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