Ein neues Gesetz könnte zehntausenden berufskranken Menschen helfen – und geht Experten doch nicht weit genug
BuzzFeed News veröffentlicht den Entwurf für das neue Gesetz exklusiv.
Menschen, die bei der Arbeit krank werden, sollen in Zukunft häufiger entschädigt werden. Das geht aus einem Entwurf für ein neues Berufskrankheitenrecht hervor, den das Bundesarbeitsministerium vor wenigen Tagen vorgelegt hat.
Die geplanten Änderungen könnten zehntausenden Menschen die Chance auf eine Rente oder Reha-Maßnahmen geben, die bisher nicht für ihre beruflichen Erkrankungen entschädigt wurden. Experten kritisieren jedoch, dass die lang erwartete Reform des Berufskrankheitenrechts weit hinter Vorschlägen zurückbleibt, die zum Teil seit Jahren vorliegen. Betroffene hätten auch mit dem neuen Gesetz noch immer viel zu schlechte Chancen auf eine Entschädigung.
Jedes Jahr sterben in Deutschland gut 2500 Menschen an einer Berufskrankheit, das sind fast so viele Tote wie im Straßenverkehr. 75.000 Menschen zeigen jedes Jahr eine Berufskrankheit an, nur gut ein Viertel bekommt danach eine Entschädigung. In anderen Ländern, wie Frankreich, Spanien oder Dänemark werden deutlich mehr Berufskrankheiten anerkannt.

Seit Jahren fordern deshalb Betroffene, Gewerkschaften und die Bundesländer eine Verbesserung des Berufskrankheitenrechts. Vor wenigen Jahren machten sogar die für die Entschädigung zuständigen Berufsgenossenschaften einen Reformvorschlag. Vergangene Woche hat das Bundesarbeitsministerium nun einen Entwurf für ein neues Gesetz an diverse Verbände verschickt. Diese können den Entwurf in den kommenden Tagen kommentieren, ehe das Gesetz in den Bundestag eingebracht wird.
Ein neues Gesetz könnte zehntausenden Menschen helfen
Neun Berufskrankheiten, von starken Rückenschmerzen über schwere Hautkrankheiten bis hin zu chronischen Sehnenscheidenentzündungen, waren bisher von einer Entschädigung ausgeschlossen, wenn die Betroffenen weiter gearbeitet haben, der sogenannte „Unterlassungszwang“. Viele Menschen haben sich deshalb in der Vergangenheit dafür entschieden, lieber weiter zu arbeiten. Ohne Job und nur mit der geringen Entschädigung der Berufsgenossenschaften hätten sie ihr Leben nicht finanzieren können.
Die Bundesregierung schreibt nun, dass dies „unangemessene Nachteile für die Versicherten“ nach sich gezogen habe. Über Jahrzehnte haben wegen des Unterlassungszwangs jedes Jahr tausende Menschen keine Entschädigung bekommen. Die von den Arbeitgebern finanzierten Berufsgenossenschaften haben so über die Jahrzehnte konservativ geschätzt mehrere hundert Millionen Euro gespart, vermutlich sogar mehrere Milliarden Euro.
Jetzt wird dieser Unterlassungszwang abgeschafft. Und die Berufsgenossenschaften müssen nun für alle seit 1997 eingereichten Anträge auf Berufskrankheiten prüfen, ob die Betroffenen ab sofort doch Entschädigungen bekommen könnten. Die Behörden werden deshalb bei zehntausenden Fällen neu ermitteln müssen. Betroffene, die ihren Antrag vor 1997 gestellt haben, können eine Überprüfung selbst beantragen. Aber: „Rückwirkende Leistungen“, schreibt das Ministerium, „werden nicht erbracht“. Die verlorenen Jahre bekommen die Betroffenen also nicht zurück, sie bekommen ihr Geld erst ab dem Zeitpunkt, ab dem das neue Gesetz verabschiedet wird.
Mehr Geld für neue Berufskrankheiten
Eine weitere Neuerung: Neue Berufskrankheiten wie Lungenkrebs bei Schweißern oder Parkinson durch den Kontakt mit Pestiziden sollen schneller auf die Liste offizieller Berufskrankheiten gesetzt werden. Verantwortlich für die Aufnahme neuer Berufskrankheiten ist ein ärztlicher Sachverständigenbeirat. Dieser tagt derzeit viermal im Jahr ehrenamtlich und hat kaum Personal oder Budget. Fast immer dauert es deshalb Jahre, bis eine neue Berufskrankheit auf die Liste kommt. Die Bundesregierung hat nun erkannt, dass es „dringender Verbesserungen“ bedarf. Die langen Beratungen seien „im Interesse der beruflich erkrankten Menschen nicht länger vertretbar“, schreibt das Ministerium in der Gesetzesbegründung. Nun soll es eine Geschäftsstelle für den Ausschuss geben, angesiedelt bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Diese Geschäftsstelle soll zehn Personen umfassen und rund 300.000 Euro zusätzliches Budget für wissenschaftliche Arbeiten haben.
Ein großes Problem für Menschen, die in ihrem Job erkranken, ist oft die Beleglage: Viele Krankheiten wie zum Beispiel bestimmte Krebsarten zeigen sich erst Jahre oder Jahrzehnte später, teilweise gibt es die alten Arbeitsplätze nicht mehr. Die Berufsgenossenschaften sind dazu verpflichtet, ausreichend zu ermitteln. Viele Experten und Betroffene kritisieren jedoch, dass dies nicht gründlich genug geschieht. Das Arbeitsministerium will die Berufsgenossenschaften nun dazu bringen, mehr Daten zu erheben und in sogenannten Katastern zu speichern und zum Beispiel Erkenntnisse von vergleichbaren Arbeitsplätzen und Tätigkeiten zu berücksichtigen.
Mehrere Experten sagen im Gespräch mit BuzzFeed News, dass dies nicht ausreiche. Es dauere zu lange, „bis weitere umfassendere Kataster erstellt worden sind“, schreibt auf Anfrage beispielsweise die Juristin Anna-Lena Hollo, die im vergangenen Jahr eine Doktorarbeit zur Reform des Berufskrankheitenrechts veröffentlicht hat. Die Experten fordern deshalb zusätzliche Beweiserleichterungen für die Betroffenen.
Auch Jutta Krellmann von der Linksfraktion im Bundestag hält diesen Punkt für problematisch und bezeichnet die Reform als halbherzig. Krellmann beschäftigt sich seit Jahren mit dem Berufskrankheitenrecht und sitzt für ihre Partei im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales. Sie fordert für Betroffene neben einer Beweiserleichterung auch eine Härtefallregelung. „Besonders für bestimmte Betroffenengruppen, denen der Nachweis einer Berufskrankheit schwerfällt.“ Die Nachweishürden für Berufskranke müssten runter, die Verfahren dauerten oft viel zu lange. „Es ist ein Unding, wenn schwerkranke Menschen so hingehalten werden.“
Eine Härtefallregelung für mehr Einzelfallgerechtigkeit vermisst auch Beate Müller-Gemmeke von den Grünen. „Die wichtige Reform des Berufskrankheitenrechts hat also eine Leerstelle, die dringend gefüllt werden sollte.“
Mehr Forschung für den Arbeitsschutz
Berufsgenossenschaften sind dazu verpflichtet, zu neuen Berufskrankheiten zu forschen. Diese Forschung sollen die Berufsgenossenschaften dem Entwurf zufolge nun einmal im Jahr offenlegen: In welche Projekte haben sie wie viel Geld investiert und welche Wissenschaftler haben dieses Geld erhalten?
Im Gespräch mit BuzzFeed News kritisieren Experten, dass dies nicht weit genug gehe. Da die Berufsgenossenschaften in der Vergangenheit zu wenig zu neuen Berufskrankheiten geforscht hätten, müsse es in Zukunft klare Regeln für die Forschung geben. Wenn zum Beispiel in anderen europäischen Ländern neue Berufskrankheiten eingeführt werden, dann sollten deutsche Berufsgenossenschaften verpflichtet werden, diese ebenfalls zu erforschen. So ist Parkinson durch Pestizide in Frankreich seit Jahren eine anerkannte Berufskrankheit.
Till Mansmann, der für die FDP im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bundestages sitzt, wünscht sich genau solch eine Europäisierung. „Wir müssen schauen, was in anderen Ländern anerkannt ist und wir müssen eine Synchronisierung hinbekommen. Ich glaube, dass wir dadurch auch eine Schutzverbesserung in Deutschland hinbekommen würden.“ Das Bundesarbeitsministerium schreibt auf Anfrage, dass die Berufsgenossenschaften bereits einen ausdrücklichen Forschungsauftrag hätten.
Auch die Arbeits- und Sozialminister der Bundesländer hatten 2016 mehr Forschung zu Berufskrankheiten gefordert – nicht nur von den Berufsgenossenschaften selbst, sondern von unabhängigen Instituten. Denn die Berufsgenossenschaften werden von den Arbeitgebern finanziert und könnten deshalb ein Interesse daran haben, nicht zu viele Berufskrankheiten anzuerkennen.
Experten kritisieren den Entwurf als halbherzig
Die größte deutsche Gewerkschaft, die IG Metall, fordert, dass auch seltene Krankheiten ohne ausreichende wissenschaftliche Erkenntnisse anerkannt werden, wenn plausibel ist, dass diese durch den Beruf entstanden sind. „Die Formulierungen für Berufskrankheiten sind an einigen Stellen zu eng oder zu weit, so dass sie zu vielen Ablehnungen führen“, sagt Heinz Fritsche, Gewerkschaftssekretär von der IG Metall, im Gespräch mit BuzzFeed News.
Grundsätzlich, sagt Gewerkschafter Fritsche, gehe der Entwurf des Ministeriums in die richtige Richtung. Neben der Härtefall-Regelung hat er als Gewerkschafter aber noch eine zweite Forderung: einen sozialpolitischen Ausschuss. Der soll das Ministerium beraten, welche Berufskrankheiten wie formuliert werden. Einen solchen Sozialpartner-Ausschuss fordern auch die Bundesländer in ihrem Beschluss von Dezember 2016.
Einfallstor für willkürliche Entscheidungen?
Ganz grundsätzliche Kritik am Entwurf des Ministeriums hat Michael Gümbel, Leiter von „Arbeit und Gesundheit“ in Hamburg, einer der wenigen unabhängigen Beratungsstellen für Betroffene. Im Gesetzesentwurf ist eine verstärkte Mitwirkungpflicht der Betroffenen vorgesehen. Wenn sie eine Berufskrankheit anerkannt bekommen, sollen sie verpflichtet werden, an Präventionsmaßnahmen teilzunehmen. Wenn sie dies nicht ausreichend tun, können ihnen Leistungen gekürzt werden. Die Mitwirkungspflicht könne die Berufsgenossenschaften ermutigen, willkürlich zu entscheiden, schreibt Gümbel auf Anfrage von BuzzFeed News.
„Als unabhängige Beratungsstelle sehen wir in unserer Arbeit mit Betroffenen oft, dass Berufsgenossenschaften erst einmal nicht bereit sind zu zahlen oder vorher nicht genug für Prävention getan haben. Und für Betroffene ist es dann sehr schwierig, dagegen bei den Berufsgenossenschaften mit den Sachbearbeitenden und deren spezialisierten Rechtsstellen anzukämpfen.“ Wenn ein Arbeitgeber seine Mitarbeiter krank gemacht habe, dann stehe den Mitarbeitern eine Rente zu, egal ob sie anschließend an einer Prävention mitwirken. „Es ist doch die Verpflichtung des Arbeitgebers nach dem Gesetz, die Arbeitsbedingungen zu verbessern – und der Berufsgenossenschaften, das zu kontrollieren“, schreibt Gümbel. Und: „Ein Zwang zur Teilnahme wird auch die vielen, die das eigentlich gerne tun würden, demotivieren.“
Zahlreiche Probleme greift der Entwurf nicht auf
BuzzFeed News hatte in den vergangenen Monaten mehrfach zu Berufskrankheiten berichtet. Einige der in unseren Recherchen identifizierten Probleme werden in dem Gesetzesentwurf nicht aufgegriffen. So kritisieren Experten seit langem, dass die Auswahl von Gutachtern im Berufskrankheiten-Verfahren problematisch sei: Viele Gutachter seien zu eng an die Berufsgenossenschaften gebunden, für Betroffene seien einseitige Gutachter nicht zu erkennen. Eine Lösung könnte sein, dass die Berufsgenossenschaften keine Ärzte mehr als Gutachter auswählen dürfen, die in engen Geschäftsbeziehungen mit ihnen stehen. Das wären zum Beispiel die sogenannten beratenden Ärzte der Berufsgenossenschaften oder angestellte Ärzte von berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken. Wenigstens aber müssten mögliche Interessenkonflikte den Betroffenen transparent gemacht werden. Davon ist im Entwurf nichts zu lesen. Das Bundesarbeitsministerium antwortet auf Anfrage, dass dies in der Praxis ohnehin längst geschehe.
Problematisch sind auch die Entscheidungswege innerhalb der Berufsgenossenschaften. Dort entscheiden Ausschüsse über die Anträge der Betroffenen, besetzt mit Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Arbeitnehmervertreter sind häufig Laien und bekommen kaum Zeit, sich ausreichend vorzubereiten. Im Schnitt haben die Ausschussmitglieder für 30 Entscheidungen etwa zwei bis drei Stunden Zeit, also etwa fünf Minuten pro Fall. Michael Gümbel von der Hamburger Beratungsstelle fordert deshalb eine verpflichtende Fortbildung der Mitglieder der Ausschüssen, insbesondere zu neuen Berufskrankheiten. Im Gesetzesentwurf ist dazu nichts zu lesen. Das Bundesarbeitsministerium schreibt auf Anfrage, dass die Besetzung der Ausschüsse die Aufgabe der Berufsgenossenschaften sei.
Immer wieder kritisiert werden auch die mangelhafte Kontrolle der Berufsgenossenschaften. In den Bundesländern sind die Landesgewerbeärzte für die Aufsicht über die Berufskrankheiten-Verfahren zuständig. Doch die Zahl dieser Ärzte ist nach Recherchen von BuzzFeed News in den vergangenen zwei Jahrzehnten von 160 auf weniger als 70 gefallen. Ein Gewerbearzt ist in Deutschland heute im Schnitt für mehr als 500.000 Menschen zuständig. Nur noch ein Viertel aller Berufskrankheiten-Verfahren werden von einem Gewerbearzt überprüft. Der Mangel an Aufsicht über die Berufsgenossenschaften wird im Entwurf des Arbeitsministeriums nicht erwähnt.
Auch Jutta Krellmann von der Linksfraktion im Bundestag fordert eine stärkere Rolle der Landesgewerbeärzte bei der Kontrolle der Verfahren. „In meinem Bundesland Niedersachsen ist nur noch ein einziger Landesgewerbearzt für Berufskrankheiten zuständig, in Bremen gibt es gar keinen mehr. Das ist ein unhaltbarer Zustand.“ Das Bundesarbeitsministerium schreibt auf Anfrage, dass die Länder für ihre Ressourcen selbst verantwortlich seien.
Experten fordern unabhängige Beratungsstellen
Darüber hinaus gibt es für die Beratung von Betroffenen kaum unabhängige Beratungsstellen. Lediglich in Hamburg und Bremen können sich Betroffene an eine Stelle wenden – und selbst in diesen beiden Städten gibt es dafür zu wenig Personal. In Hamburg ist für die Beratung von Berufskrankheiten-Anzeigen weniger als eine Stelle vorgesehen. Zuletzt konnte die Beratungsstelle deshalb pro Jahr nur etwa ein Dutzend Menschen beraten – bei 1000 Berufskrankheiten-Anträgen, allein in Hamburg, jedes Jahr. Die Bremer Beratungsstelle schrieb auf Anfrage von BuzzFeed News, die Betroffenen seien ohne Hilfe „meist überfordert“. „Eine große Hürde stellt die Flut der jeweiligen Vordrucke der Berufsgenossenschaften dar“, schrieb die Pressesprecherin der Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz auf Anfrage.
Auch Beate Müller-Gemmeke von den Grünen fordert deshalb „dringend mehr unabhängige Beratungsstellen für Betroffene“, mit genügend Personal und einer sicheren Finanzierung. Denn unabhängige Beratungsstellen werden im neuen Gesetzesentwurf nicht erwähnt. Das Bundesarbeitsministerium schreibt auf Anfrage, dass die Bundesregierung mit dem Bundesteilhabegesetz bereits eine unabhängige Teilhabeberatung fördere.
Wir veröffentlichen den Teil des Gesetzes, der sich auf Berufskrankheiten bezieht, an dieser Stelle in voller Länge und im Original.
UPDATE
11.10.2019, 09:44
In einer früheren Version hatten wir die Kniegelenksarthrose bei Bergleuten als Beispiel für eine noch nicht anerkannte Berufskrankheit in Deutschland angegeben. Das war ein Fehler. Unter der BK 2112 können sich auch Bergleute in Deutschland eine Gonarthrose anerkennen lassen, wenn sie nachweisen können, dass sie lange genug im Knien gearbeitet haben.
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