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Hunderte Angriffe auf Pflegekräfte und Untergebrachte pro Jahr in forensischen Kliniken

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Von: Juliane Löffler

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In einer forensischen Klinik steht die Tür zu einem Isolierzimmer offen.
Viele forensische Kliniken sind überfüllt. Und: Seit Jahren werden mehr Gewalttaten gemeldet. © Felix Kästle / dpa

In den 78 deutschen Kliniken des Maßregelvollzugs kam es zuletzt zu hunderten Gewalttaten. Das zeigen bundesweite Recherchen von BuzzFeed News.

Mitarbeit: Laurenz Schreiner

Mehr als 450 tätliche Angriffe gegen Pflegekräfte, rund 400 Übergriffe gegen Untergebrachte – so viele Gewalttaten in forensischen Kliniken meldeten die 16 Bundesländer auf Anfrage von BuzzFeed News Deutschland zuletzt pro Jahr. Die Zahlen steigen den Recherchen zufolge seit Jahren kontinuierlich. Mehrere Bundesländer schreiben, dies bedeute jedoch nicht, dass es häufiger zu Gewalt komme.

In den forensischen Kliniken in Deutschland werden jährlich rund 13.000 psychisch kranke und drogenabhängige Menschen untergebracht, die straffällig geworden sind. Eine Recherche zu den Missständen im Maßregelvollzug in Deutschland von BuzzFeed News hatte kürzlich gezeigt, dass Gewalttaten zumindest in einzelnen Fällen auch im Zusammenhang mit Missständen in den Kliniken stehen. So sind die Kliniken unseren Recherchen zufolge derzeit in neun Bundesländern überfüllt. In zwei weiteren Bundesländern ist die Kapazitätsgrenze erreicht. 

Behandlungen in forensischen Kliniken fallen aus, Patient:innen landen in Isolierzimmern

Ärzt:innen und Therapeut:innen berichteten gegenüber BuzzFeed News, dass Behandlungen häufig ausfallen und von nicht ausreichend qualifiziertem Personal durchgeführt werden. Patient:innen werden in Isolierzimmer einquartiert, die eigentlich für Notfälle frei bleiben sollten. Ärzt:innen, Pfleger:innen und Therapeut:innen berichten, dass sie gefährliche Situationen nicht deeskalieren können oder überfordert seien – sie sind zu wenige und die Patient:innen zu viele. Deshalb komme es auch zu Gewalt und Zwangsmaßnahmen. Auch Untergebrachte leiden stark unter den Zuständen, zeigt unsere Recherche

Der Blick in einzelne Bundesländer zeigt nun, dass die Zahl der Gewalttaten seit 2005 kontinuierlich ansteigt. In mehreren Bundesländern wie etwa in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bremen haben sich zum Beispiel die Angriffe auf Pflegekräfte in den vergangenen zehn Jahren vervierfacht. Trotzdem gab die Hälfte der Bundesländer an, dass sie nicht von einer Zunahme der Gewalt ausgehen. Stattdessen erklären sie den Anstieg der Gewalttaten mit verschiedenen Ursachen. 

Zahl der Untergebrachten in Psychiatrien deutlich erhöht

So hat sich die Zahl der Untergebrachten in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Vor allem die Zahlen der Menschen, die wegen einer Drogensucht in den Maßregelvollzug kommen, sind drastisch gestiegen und haben sich seit 2007 fast verdoppelt. Zudem habe sich die Dokumentation solcher Angriffe in den vergangenen Jahren geändert. „Mittlerweile werden Tätlichkeiten von Untergebrachten zum Schutz der Beschäftigten und Mitpatienten konsequenter und strukturierter erfasst und verfolgt“, heißt es zum Beispiel vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern. 

Hinzu kommt, dass die Bundesländer Gewalttaten unterschiedlich erfassen. Während das Saarland das „Werfen einer Shampooflasche in Richtung von Bediensteten“ bereits als Gewalt gegen Pflegepersonal registriert, nehmen andere nur Gewaltfälle mit Verletzungsfolgen auf. Berlin lieferte als einziges Bundesland keine Zahlen, doch die Zeit und der NDR berichteten kürzlich, dass es hier 2020 zu mindestens 300 Übergriffen gegen Mitarbeiter:innen gekommen sein soll. Die Berliner Gesundheitssenatsverwaltung schreibt auf Anfrage nur, sie könne diese Zahlen nicht nachvollziehen. Bayern und Sachsen erfassen Gewalt im Maßregelvollzug nur teilweise, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt gar nicht.

Überfüllung der forensischen Kliniken mittlerweile eine „Gefahr für die allgemeine Sicherheit“

Gleichzeitig sind die Maßregelvollzugskliniken genau in letzterem Bundesland so voll, dass das zuständige Sozialministerium Sachsen-Anhalt laut Medienberichten in einer vertraulichen Bestandsaufnahme vor einer „Gefahr für die allgemeine Sicherheit“ warnte – verurteilte Straftäter müssten wegen der Überfüllung untherapiert aus der Haft entlassen oder in Freiheit belassen werden.

Für das Jahr 2020 kommt hinzu, dass wegen der Corona-Pandemie deutlich weniger Ausgänge und Besuche für die Patient:innen erlaubt waren. Das habe in Nordrhein-Westfalen zu weiteren Gewalttaten geführt, schreibt das dortige Gesundheitsministerium auf Anfrage.

Immerhin: Mord oder Totschlag meldeten die Ministerien in den von BuzzFeed News abgefragten Vergleichsjahren 2005, 2010, 2015, 2019 und 2020 kein einziges Mal. Zu Suiziden kommt es dagegen immer wieder. Deutschlandweit begehen jedes Jahr etwa ein Dutzend Menschen in forensischen Kliniken Selbsttötungen.

Besonders angespannt ist die Situation in den Kliniken in Berlin

Besonders angespannt ist die Situation im Maßregelvollzug von Berlin. Ein Vorfall aus dem vergangenen Jahr zeigt, wie wenig hier zum Teil für den Schutz des Personals getan wird. Im Februar 2020 griff ein Patient im Berliner Maßregelvollzug eine Psychiaterin an. Immer wieder stach der Täter mit einem angespitzten Besteckmesser auf die Frau ein. Nur mit Hilfe anderer Patienten konnte sich die Psychiaterin retten. 

In den vergangenen gut zwölf Monaten haben sich Mitarbeiter:innen aus dem Krankenhaus in mehreren E-Mails bei der Krankenhausleitung beschwert. Die E-Mails liegen BuzzFeed News Deutschland vor. In einem anonymen Brandbrief schreiben Mitarbeitende, die sich zu einem anonymen Aktionsbündnis zusammengeschlossen haben, Ende Februar 2020 von einer „wahrnehmbaren Überforderung” auf den Stationen. Ein Mitarbeiter des Berliner Senats bekommt die E-Mail in Kopie. Bereits 2017, steht in dem Schreiben, habe eine unabhängige Sicherheitskommission festgestellt, dass die großen Stationen auch aus Sicherheitsgründen geteilt werden müssten – passiert sei jedoch nichts. Mit Sorge beobachteten die Mitarbeiter:innen, „wie sich das Arbeitsklima und somit die Bedingungen für die hier Arbeitenden als auch den hier Untergebrachten immer weiter verschlechtern“. 

In einer Antwort an die Mitarbeiter:innen wiegelt die damalige Klinikleitung ab und weist einzelne Vorwürfe zurück. Das Verfassen einer anonymen Email sei nicht hilfreich. Man würde gerne in Diskussion treten, um konstruktive Verbesserungsmöglichkeiten zu erarbeiten. 

Ein Patient griff 2018 eine Pflegekraft mit einem Messer an – und dann 2020 nochmal

Aus den Mails geht auch hervor, dass der Patient des Angriffs vom Februar 2020 bereits 2018 eine andere Ärztin angegriffen habe – ebenfalls mit einem Messer. In einer Mail schreibt diese Ärztin, sie habe bereits mehrere Monate vor dem erneuten Angriff vor genau diesem Patienten gewarnt. „Diese schreckliche und grausame Wiederholungstat hätte nicht geschehen dürfen, davon bin ich überzeugt.“ Sie schreibt nach der Gewalttat im Jahr 2020 gleich mehrere offene Briefe, die auch an die Mitarbeitenden und die Krankenhausleitung gehen. 

In diesen Briefen schreibt die Ärztin auch von einer „katastrophal zu nennenden Unterbesetzung“ und bezeichnet diese als gravierendes Sicherheitsrisiko. „Warum gibt es keine Kameraüberwachung auf den Stationen?“, schreibt sie. „Warum ist der Wachschutz nicht präsenter? Warum ist das Personal einer derartig großen Gefahr ausgesetzt, lebensgefährlich angegriffen und verletzt zu werden?“ Mehrfach bekommt diese E-Mails in Kopie: Die im Berliner Senat für die Fachaufsicht Maßregelvollzug zuständige Person.

Die zuständige Berliner Gesundheitssenatsverwaltung nahm trotz mehrerer Anfragen per Email und Telefon bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung keine Stellung zu diesen konkreten Vorwürfen.

Konfrontiert mit anderen Missständen wie der Überfüllung und der angespannten Situation auf den Stationen schreibt eine Pressesprecherin, der Maßregelvollzug „reagierte und reagiert kontinuierlich darauf mit einer Erhöhung der Platzkapazitäten, was unter anderem zu einer vermehrten organisatorischen und finanziellen Belastung der Länder führt.“ 2020 seien in Berlin trotz der schwierigen Ausgangslage 55 neue Vollzugsplätze geschaffen worden, für dieses Jahre sollen 16 Plätze im stationären Bereich hinzukommen. Zudem arbeite man mit einer Bund-Länder-Gruppe an einer Reform eines der Strafrechtsparagrafen, um den Maßregelvollzug zu entlasten.

Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt im Maßregelvollzug in mehreren Bundesländern

Andere Bundesländer gaben an, verschiedene Präventionsmaßnahmen gegen die Gewalttaten zu ergreifen. So bieten unter anderem Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Baden-Württemberg Deeskelationsseminare für Mitarbeiter:innen im Maßregelvollzug an. In Brandenburg habe man durch bauliche Veränderungen auf die Zunahme der Gewalt reagiert und beispielsweise zusätzliche Gitterwände errichtet. Hier soll außerdem die Zahl der sogenannten Krisenzimmer erhöht worden sein, in denen aggressive Patient:innen in akuten Situation isoliert werden können. 

Auch Bayern schreibt, den Maßregelvollzug durch Umbauten verbessern zu wollen. Es werde „großer Wert auf eine offene und zwangs- bzw. aggressionsvermeidende Bauweise“ gelegt, breite Gänge und Rauchgelegenheiten seien dafür Beispiele. Außerdem gibt Bayern an, mehr Pfleger:innen im Maßregelvollzug einzustellen. In Mecklenburg-Vorpommern soll außerdem das Essbesteck angepasst werden, sodass es nicht mehr als Stichwaffe genutzt werden kann.

Diese Recherche entstand in Zusammenarbeit mit Carolin Haentjes und Antonia Märzhäuser. Die Ursprungsrecherche finden Sie hier. 

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