Die Prozesskosten und Kosten für die Anwält:innen tragen bei den Vergleichen am Ende die Migrant:innen, meist Summen im vierstelligen Bereich, oder weniger, wenn Prozesskostenhilfe gewährt wird. Für Schutzsuchende in Deutschland, die oft nur eine schlecht bezahlte Arbeit haben, kann das ein hoher Betrag sein.
Das Auswärtige Amt spart dadurch eine Menge Geld. Die genaue Summe lässt sich nicht berechnen, weil die durchschnittlichen Kosten der Verfahren nicht bekannt sind. Geht man aber von etwa 2000 Euro pro Verfahren (Gerichts- und Anwaltskosten) aus, spart die Behörde bei den von uns ermittelten 300 bis 500 Vergleichen pro Jahr rund eine Million Euro.
Für das Auswärtige Amt ist es umgekehrt vorteilhaft, dass sich die Migrant:innen bei der Antragstellung in den Botschaften nicht auf andere Gerichtsverfahren berufen können, bei denen eine Familie schon einmal ein ähnliches Verfahren gewonnen hat und dadurch ein Visum erteilt bekam. Es bleibt also bei der einseitigen Rechtsprechung, Familiennachzug lässt sich dadurch systematisch verschleppen und verhindern.
Auf eine Presseanfrage antwortet das Auswärtige Amt, dass es nur in wenigen Fällen überhaupt zu Klagen käme. 100.000 Visa werden pro Jahr insgesamt für den Nachzug von Familien erteilt. Dass viele gerichtliche Verfahren mit einem Vergleich enden, ist laut Auswärtigem Amt vor allem damit zu erklären, „dass erst im Rahmen des Verfahrens alle für eine Visumserteilung erforderlichen Nachweise vorgelegt“ würden. Vergleiche seien „im Interesse der Antragstellenden“, da die Beilegung für sie Zeit und Kosten spare.
Es gibt verschiedene Gründe, warum Migrant:innen sich auf den Vergleich einlassen. Sie müssten sonst weitere Monate, vielleicht Jahre, auf die Entscheidung warten. Zudem will niemand das Risiko eingehen, am Ende doch zu verlieren. Auch Anwält:innen raten deshalb ihren Mandant:innen, den Vergleich anzunehmen. „Man weiß einfach nicht genau, wenn das Urteil kommt, ob es rechtskräftig wird oder nicht – oder ob man dann noch mal in die nächste Instanz gehen müsste“, sagt Christoph Tometten. Er ist Migrationsanwalt in Berlin und hat regelmäßig mit den „Berliner Vergleichen“ zu tun.
Auch Tesfay Haile wollte nicht noch länger warten. Seine Familie ist seit wenigen Wochen in Deutschland, im Gespräch erinnert sich Haile an den Tag des Prozesses: „Als ich im Gerichtssaal erfahren habe, dass sie ein Visum bekommen, war ich so froh.“ Er habe sofort bei seiner Familie angerufen. Die wenigen verbleibenden Wochen, bis sie endlich nach Deutschland einreisen durften, „konnte ich wirklich kaum aushalten“, sagt Haile.
Anfang Oktober diesen Jahres wohnt die Familie gemeinsam in einer Gemeinschaftsunterkunft in Berlin-Spandau, weiße Container stehen eng aneinander. Tesfay Haile ist aufgeregt, am Mittag soll er mit seiner Familie die Unterkunft wechseln. Wenn er an die Jahre davor zurückdenkt, spricht er leiser. Die Zeit bezeichnet er rückblickend als „Hölle“. „Es war sehr schwer, ohne Kinder und Ehefrau hier zu leben. Das hat mir richtig zugesetzt“, sagt Haile. „Ich hatte kein Selbstbewusstsein mehr, ich wurde depressiv. Ich wusste ja nicht, wann meine Familie kommt – oder ob sie überhaupt kommen darf.“
Mittlerweile arbeitet Haile als Mitarbeiter bei einem Versandhandel, er verdient monatlich 1400 Euro. Der „Berliner Vergleich“ habe ihn finanziell massiv belastet, allein die Anwaltskosten übersteigen sein Monatsgehalt. „Es ist sehr, sehr viel Geld, aber das große Problem ist gelöst. Meine Familie ist hierher gekommen, das zählt für mich“, sagt Haile. „Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste meine Kinder, meine Ehefrau hierher bringen, koste es, was es wolle.“
Schließlich hatte die Familie lange warten müssen. Fast zwei Jahre dauerte es, bis Tesfays Ehefrau in Äthiopien einen Termin bei der Botschaft bekam. Aus einer Kleinen Anfrage der Linken geht hervor: Im Mai 2021 waren allein in Addis Abeba fast 3000 Terminanfragen anhängig, in Beirut waren es sogar über 15.000. Die Wartezeit liegt in weiteren Botschaften bei über einem Jahr. Ein Grund dafür ist, dass in den Botschaften zu wenig Personal für die Bearbeitung der Visa eingeteilt ist. In Addis Abeba in Äthiopien waren es im Mai 2021 beispielsweise 13 Menschen.
Von 2019 bis 2020 wartete Familie Haile fast genau ein Jahr, bis sie eine Ablehnung für das Visum bekam. Der Botschaft fehlte eine staatliche Heiratsurkunde, die es bei kirchlichen Hochzeiten in Eritrea allerdings nicht gibt und worauf Anwält:innen seit Jahren hinweisen. Seitenlange Chat-Protokolle zwischen Haile und seiner Ehefrau, die Bestätigung der Hochzeit durch die orthodoxe Kirche, Bestätigungen der Trauzeugen, Familienfotos und Flugtickets, die einen Besuch von Tesfay Haile bei seiner Familie in Addis Abeba belegten, reichten der Botschaft nicht aus, um die Eheschließung anzuerkennen.
Also klagte die Familie und musste danach noch einmal neun Monate auf den „Berliner Vergleich” warten. Wie sehr sich die Verfahren am Verwaltungsgericht Berlin hinziehen können, zeigt die interne Statistik des Ministeriums: Im Schnitt müssen Migrant:innen rund 300 Tage auf einen sogenannten Vergleich warten.
Für Hailes Anwalt Julius Engel ist es unverständlich, dass die eritreische Familie fast fünf Jahre getrennt leben musste. „Bei meinem Mandanten waren die Voraussetzungen für ein Familiennachzugsverfahren im Grunde genommen im Jahr 2017 geschaffen. Es kann nicht sein, dass wir dann ein behördliches Verfahren von drei Jahren haben“, sagt er. Viele seiner Mandanten seien nicht in der Lage, nachträglich amtliche Heiratsurkunden zu beschaffen, weil ihnen Repressionen durch den eritreischen Staat drohen.
Andere Begründungen der Botschaften, ein Visum nicht zu erteilen, sind zum Beispiel fehlende Sprachkenntnisse, Verdacht auf Scheinehe oder Zweifel an der Absicht, eine eheliche Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen. „Man ist akribischer bei der Suche nach Gründen, um ein Visum abzulehnen als bei der Suche nach Gründen, um ein Visum zu erteilen”, sagt Christoph Tometten, Anwalt für Migrationsrecht.
Im Fall von Adil Al Khatib bemängelte das Auswärtige Amt eine verspätete Antragstellung. Seinen Namen haben wir geändert, Al Khatib hat Sorge, dass es bei dem Visum für seine Frau rückwirkend noch Probleme geben könnte. Der Syrer lebt seit 2017 in Deutschland. Im Januar 2019 beantragte seine Ehefrau bei der Deutschen Botschaft im Libanon ein Visum. Zwar lagen bei ihr offenbar alle notwendigen Dokumente vor, doch ein Jahr später bekam sie trotzdem die Nachricht, dass ihr Visum abgelehnt wird. Ihr Mann lebe schon zu lange in Deutschland, die Syrerin habe zu lange gewartet, das Visum zu beantragen. Daher gäbe es den Verdacht, dass eine Scheinehe vorliege. Die deutschen Behörden seien nicht sicher, ob das Paar in Deutschland wirklich zusammenleben wolle. Al Khatib nennt „persönliche Gründe“ für die verzögerte Antragstellung, genauer möchte er darauf nicht eingehen. „Die Zeit nach der Ablehnung war sehr bitter für uns“, sagt Al Khatib. „Es war super stressig, für meine Frau, für unsere Familien. Aber die lassen einen einfach warten.“
Im September 2020 nahm Al Khatib den „Berliner Vergleich” des Auswärtigen Amtes an. Wie viele andere Kläger:innen, mit denen Ippen Investigativ und Kontraste gesprochen haben, wollte er das Verfahren nicht bis zum Ende durchfechten: Die Angst, dass seine Frau am Ende doch nicht kommen dürfte, war zu groß. Al Khatib wohnt mittlerweile mit seiner Frau in Potsdam und arbeitet als Finanzbuchhalter. Mitte September ist das erste Kind der beiden auf die Welt gekommen.
Ippen Investigativ, Kontraste und FragDenStaat haben mehrere Schreiben des Auswärtigen Amtes verglichen, in denen ein solcher Vergleich angeboten wird. Häufig ähneln sich die Formulierungen, und am Ende der Dokumente steht mehr oder weniger wortgleich: Die Klägerin nimmt die Klage zurück und trägt die Kosten des Verfahrens.
Von „Berliner Vergleichen” sind nicht nur Geflüchtete betroffen. Auch Deutsche, die eine:n Partner:in außerhalb von Europa gefunden haben und heiraten möchten, müssen oft den Umweg über das Gericht gehen. Entsprechende Dokumente liegen Ippen Investigativ und Kontraste vor. In diesen Fällen weisen die Botschaften Visa zunächst mit dem Verdacht auf Scheinehe ab, erzählen auch Anwält:innen .
Wenn man sich unter Rechtsanwält:innen aus dem Fachbereich umhört, versteht man, dass diese Strategie des Auswärtigen Amts seit Jahren bekannt ist und sehr kritisch gesehen wird. Es fallen Sätze wie:
„Es ist ein Spielchen, wir wissen alle, wie das ist.“
„Man kommt sich verarscht vor.“
„Es ist legal, zeugt allerdings von einem sehr verqueren Verständnis von Rechtsstaatlichkeit.“
Die Anwält:innen ärgern sich auch darüber, dass das Verwaltungsgericht bei diesen „Vergleichen“ mit dem Auswärtigen Amt kooperiere. Einige von ihnen vermuten, dass die „Berliner Vergleiche“ auch den Richter:innen und Gerichten Vorteile verschaffen. So müssen häufig ohnehin zeitlich überlastete Richter:innen für die emotionalen und teilweise komplizierten Verfahren kein Urteil sprechen oder schreiben und sparen Zeit. Einem Sprecher des Verwaltungsgerichts Berlin zufolge lag die durchschnittliche Verfahrensdauer im vergangenen Jahr bei 14 Monaten. Das Gericht profitiere also auch von den Vergleichen, sagt der Sprecher. Er sagt aber auch: „Das Abfassen des Urteils ist zwar eine zusätzliche Arbeit, aber nicht der Löwenanteil.“ Die Vorbereitung auf den Termin der mündlichen Verhandlung nehme mehr Zeit in Anspruch.
Christoph Tometten erlebt als Anwalt immer wieder, wie sehr seine Mandat:innen warten und leiden. „Unsäglich“ findet er es, dass das Auswärtige Amt den Familien immer wieder anbietet, das Visum gegen Klagerücknahme zu erteilen. „Das Auswärtige Amt würde vor Gericht nicht die Visumerteilung anbieten, wenn die Ablehnung tadellos wäre.“ Die Behörde spiele mit der Sorge der Betroffenen, dass sich die Trennung der Familien bei einer Ablehnung des Angebots monatelang bis zu einem Gerichtsurteil fortsetzen könnte. „Bei den Familien hinterlässt das einen bitteren Nachgeschmack. Das ist alles andere als Willkommenskultur“, sagt Tometten.
Er kritisiert außerdem, dass seine Mandant:innen die Kosten übernehmen müssen. Das sei „skandalös“. „Wenn das Auswärtige Amt im laufenden Verfahren erkennt, dass die ursprüngliche Entscheidung rechtswidrig war, dann müsste es eigentlich auch die Größe haben, anzuerkennen, dass es die Kosten des Verfahrens zu tragen hat“, sagt Tometten.
Problematisch sei auch, dass letztlich Aufgaben der Botschaften auf das Gericht abgewälzt würden. „Es kann nicht sein, dass die Botschaften anhand von nicht ausreichend aufgeklärter Sachverhalte Visa einfach erst mal ablehnen und sich dann ein gerichtliches Verfahren anschließt“, sagt Tometten. Dafür sei das Gerichtsverfahren nicht gedacht. Gerichte würden mit Aufgaben belastet, die eigentlich die Botschaften erledigen müssten.
Auch in der Politik ist die Praxis des Auswärtigen Amts bekannt. Janine Wissler, Vorsitzende der Linken, bezeichnet das Handeln der Behörde als „rechtsstaatlich problematisch“. Das Auswärtige Amt treffe Entscheidungen, „bei denen man offensichtlich sich ziemlich sicher ist, dass sie einer juristischen Überprüfung nicht standhalten“. Man bringe dadurch die Menschen erst in die Lage, dagegen vorgehen zu müssen. „Was sagt das über die Arbeit der Botschaften vor Ort aus? Wie wird dort geprüft? Und gibt es da vielleicht auch in irgendeiner Form politische Vorgaben? Dass gesagt wird: Haltet die Zahl möglichst klein, lasst möglichst wenig Familiennachzug zu“, sagt Wissler.
Das SPD-geführte Auswärtige Amt weist diese Vorwürfe zurück. Die Visastellen hätten nicht die Absicht, den Nachzug von Familien zu unterbinden. „Familienzusammenführung ist in vielen Fällen ein gesetzlich und teilweise sogar grundgesetzlich verbriefter Anspruch“, sagte ein Sprecher des Ministeriums dazu auf Nachfrage in der Bundespressekonferenz.
Ulla Jelpke, langjährige Bundestagsabgeordnete und in der vergangenen Legislaturperiode innenpolitische Sprecherin der Linken, äußerte gegenüber Ippen Investigativ und Kontraste ebenfalls Kritik: „Es ist nichts anderes als kaltherziges Kalkül, dass das Auswärtige Amt durch die Zusicherung zur Visumerteilung bei Klagerücknahme regelmäßig das Schaffen eines Präzedenzfalles vermeidet. Bürokratische und finanzielle Hürden sollen es geflüchteten Menschen auch in Zukunft so schwer wie möglich machen, ihre Liebsten nachzuholen. Das ist Abschreckungspolitik par excellence.“
Jelpke saß von 1990 bis 2002 und von 2005 bis 2021 im Bundestag. Dort hat sie häufig Kleine Anfragen zu Familienzusammenführungen und Migrationspolitik generell gestellt. Sie gilt als Expertin, vor allem viele Geflüchtete aus Eritrea wendeten sich in den vergangenen Jahren an ihr Büro. „Es kann nicht sein, dass Familien in langwierigen gerichtlichen Klageverfahren ihr Recht erstreiten müssen oder für immer getrennt bleiben“, sagt Jelpke.
Familie Haile hat es nun geschafft, sie ist wieder vereint. Bei Tesfay Haile hat das ganze Verfahren einen bitteren Eindruck hinterlassen. „Meiner Meinung nach wollten die Deutschen keinen Familiennachzug“, sagt er beim Spaziergang in Spandau. „Es ist schade, dass so etwas in Deutschland passiert, obwohl es ein Rechtsstaat ist.“
Dann zeigt Haile noch das Hochzeitsvideo von ihm und seiner Ehefrau aus dem Jahr 2006. Eine riesige Torte steht vor den beiden, um sie herum tanzen Männer und Frauen, die Stimmung wirkt mit der Zeit immer gelöster. Für das Ehepaar Haile ist das Video nicht nur eine schöne Erinnerung an das Fest, die man sich Jahre später gemeinsam auf der Couch anguckt. Tesfay Haile hat das Video bei den deutschen Behörden vorgelegt, jetzt ist es ein Beweisstück.
Über dieses Thema berichtet die ARD am 14.Oktober 2021 um 21:45 Uhr in der Sendung „Kontraste“.
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