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Frontex: Rund 180 Geflüchtete ertranken trotz Überwachung aus der Luft

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Ein Boot mit Geflüchteten auf dem Mittelmeer.
Recherchen von BuzzFeed News bringen neue Vorwürfe gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex ans Licht. (Symbolbild) © MARCOS MORENO/AFP

Frontex überwacht Europas Grenzen zunehmend aus der Luft. BuzzFeed News hat mehrere Fälle rekonstruiert, in denen insgesamt mehr als 180 Geflüchtete ertrunken sind, obwohl Frontex-Flugzeuge zuvor in der Nähe kreisten.

Von Vera Deleja-Hotko, Ann Esswein, Bartholomäus von Laffert

„Als wir das Flugzeug sahen, dachten wir, dass es Hilfe holen würde“, sagt Samuel Abrahm. Es ist der 10. April 2020. Dicht aneinander gedrängt sitzt er mit 62 weiteren Menschen auf einem überfüllten Schlauchboot. Auch Kinder, das eine erst wenige Tage alt, sind an Bord. So gut wie keiner trägt eine Rettungsweste. 

Um Mitternacht, legten die Frauen, Kinder und Männer, von Garabulli an der libyschen Küste ab. Abrahm hat keine Angst, er ist glücklich. „Libyen ist schlimmer als das Meer.“  

Zu diesem Zeitpunkt weiß Abrahm noch nicht, dass zwölf Menschen diese Fahrt nicht überleben werden.

Seine Geschichte erzählt Abrahm in einem Telefongespräch mit BuzzFeed News Deutschland im April 2021, etwa ein Jahr nach dem Unglück. Er hat überlebt. Seinen Namen haben wir geändert, weil er sich vor Repressionen in Libyen fürchtet.

„Immer wieder kreiste das Flugzeug über uns. Geholfen hat uns jedoch keiner.“

„Immer wieder kreiste das Flugzeug über uns“, sagt er. „Geholfen hat uns jedoch keiner.“ Das Flugzeug ist die Osprey3, eines von drei Überwachungsflugzeugen, die im Auftrag der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex über dem zentralen Mittelmeer patrouillieren. 

Flugzeug von Frontex über dem Mittelmeer
Eines der drei Frontex-Flugzeuge, die aktuell fast täglich über dem Mittelmeer kreisen. © Screenshot aus einem PR-Video auf dem YouTube-Kanal von Frontex

Eigentlich gilt auf hoher See ein einfaches Gesetz: Jeder Mensch, der in Seenot gerät, muss gerettet werden. Zuständig dafür sind Schiffe in dessen unmittelbarer Nähe, also auch ein Handelsschiff oder Frachter. Doch seit einiger Zeit setzt Frontex immer weniger Schiffe ein – und setzt stattdessen auf Flugzeuge. 

So auch an diesem Tag. Die Osprey3 wird die 63 Personen das erste Mal womöglich nur wenige Stunden nachdem sie abgelegt haben sichten – und selbst oder ein anderes Frontex-Flugzeug in den darauffolgenden Tagen immer wieder über dem Schlauchboot kreisen. So zeigen es interne Dokumente des Auswärtigen Dienstes der EU, die BuzzFeed News mit Open-Source Flugdaten abgeglichen hat. Bestätigt werden die Erkenntnisse durch das Gespräch mit Abrahm.

Von der neuer Strategie der EU – vom Wasser in die Luft – weiß Abrahm damals nicht. Was er weiß: Dass verhindert werden soll, dass Menschen Europa erreichen. „Weil das Meer blockiert wird, sterben viele Menschen“, sagt er. Unter den Personen, die im April 2020 versuchten, das zentrale Mittelmeer Richtung Europa zu überqueren, waren auch Freunde von ihm. 

Monatelange Recherchen: zahlreiche interne Frontex-Dokumente, tausende Flugdaten

BuzzFeed News Deutschland hat in den vergangenen fünf Monaten zahlreiche interne Frontex-Dokumente, tausende Flugdaten und Meldungen von Seenotrettungsorganisationen ausgewertet. Dadurch haben wir drei Fälle auf dem zentralen Mittelmeer rekonstruiert, bei denen Frontex-Flugzeuge in der Nähe waren, als insgesamt fast 250 Geflüchtete in Seenot gerieten. In den von uns rekonstruierten Fällen wurde den Menschen trotz der Frontex-Flugzeuge nicht rechtzeitig geholfen – und mehr als 180 Geflüchtete starben. 

Die Recherchen liefern zudem zahlreiche Hinweise für eine offenbar sehr enge Kooperation zwischen Frontex und der libyschen Küstenwache. Von April bis November 2020, so zeigen es interne Dokumente des Europäischen Auswärtigen Dienstes, fing die libysche Küstenwache insgesamt 94 Mal ein Boot mit Menschen ab. 70 Mal kreiste zuvor ein Flugzeug von Frontex in der Nähe, so geht es aus von uns ausgewerteten Flugdaten hervor. Die EU hat sich mit dem Einsatz von Flugzeugen offenbar eine legale Grauzone geschaffen, mit der sie die Verantwortung für ertrinkende Geflüchtete abschiebt.

[Hier findest Du eines der internen EU-Dokument als Beispiel im Original.]

Anfang April hatte das schweizer Magazin »Republik« das verdeckte Zusammenspiel der EU-Grenzschutzagentur, ihrer Flugzeuge und der libyschen Küstenwache offengelegt. Ende April berichtete der Spiegel, dass libysche Grenzbeamte offenbar über Whatsapp-Nachrichten mit Frontex-Mitarbeitern kommunizieren und dort die Koordinaten der Geflüchtetenboote teilen

Frontex-Flugzeuge sahen Boote in Seenot, dennoch ertranken die Menschen

Recherchen von BuzzFeed News zeigen nun eine weitere Dimension dieser neuen EU-Strategie auf: Frontex-Flugzeuge kreisten über Booten in Seenot, kannten also deren Position – und dennoch ertranken diese Menschen. Dabei trieben diese Boote teilweise sogar in europäischen Hoheitsgewässern. Dadurch wären EU-Mitgliedsstaaten wie Malta verpflichtet gewesen, die Menschen zu retten. 

Die Recherchen zeigen auch, dass das bisherige Vorgehen erst der Anfang einer noch viel weiter gehenden Strategie zu sein scheint: Von Langstreckendrohnen, Quadrokoptern bis hin zu Zeppelinen setzt Frontex mittlerweile neue, millionenschwere Technik ein oder plant, diese bald einzusetzen. 

Frontex schreibt: Jede Suchmission habe die Priorität, Leben zu retten

BuzzFeed News hat Frontex Mitte Mai eine Anfrage zu allen Details dieser Recherche zukommen lassen. Auf viele der Fragen hat Frontex nicht konkret geantwortet, stattdessen verschickte die Behörde einige allgemeine Absätze zu ihrer Mission im Mittelmeer.

In jeder potenziellen Such-und Rettungsmission sei es die Priorität von Frontex, Leben zu retten, schreibt Frontex-Sprecher Chris Borowski. „Ich befürchte, dass mehr Menschen in den vergangenen Jahren gestorben wären, wenn Frontex-Flugzeuge sie nicht gesichtet hätten und ihre Position an ein nationales Rettungszentrum weitergegeben hätten.“

Samuel Abrahms Boot befindet sich am 12. April um etwa 12 Uhr bereits zweieinhalb Tage auf hoher See. Es steht im Kontakt mit der Hilfsorganisation Alarmphone und gibt ihnen immer wieder ihre Koordinaten durch. Ihre aktuelle Position: N34° 29.947’ E013° 37.803’. Mittlerweile befinden sich die Geflüchteten in der maltesischen Seenotrettungszone. Somit liegt es in der Verantwortung der maltesischen Küstenwache, die Menschen zu retten. Aber eine Rettung kommt nicht. 

„Wir dachten, dass diese Reise nicht so lange dauern würde“, erzählt Samuel Abrahm „Deshalb und um Platz zu sparen, hatten wir nur wenig zu Essen und zu Trinken dabei.“ Bereits am ersten Tag seien die Vorräte knapp geworden, bis sie am zweiten komplett erschöpfen. Aus Durst und Verzweiflung hätten sie begonnen, Meerwasser zu trinken. 

Am dritten Tag, das Benzin war lange aus, kreiste angeblich erneut ein Flugzeug über ihnen

Es ist der dritte Tag auf See, ein Montag. „Das Benzin war schon lange aus. Es waren die Wellen, die uns in irgendeine Richtung trugen“, sagt Samuel Abrahm. Beinahe den  ganzen Tag über kreiste wieder ein Flugzeug über ihren Köpfen. Mal sei es ganz nah über ihnen geflogen, mal weiter weg, erzählt er. Auch Open-Source Flugdaten zeigen, dass sich die Eagle1, ein Frontex-Flugzeug, an diesem Tag in der Nähe befunden haben muss.

Ein Boot mit Geflüchtetem auf dem Mittelmeer.
Immer wieder treiben Geflüchtete tagelang in Schlauchbooten auf dem Mittelmeer, bevor ihnen geholfen wird – oder sie ertrinken. © LOUISA GOULIAMAKI/AFP

Das Schlauchboot treibt weiter auf hoher See. Noch eine Nacht und einen Tag. Bis ein Frachtschiff in der Nacht neben ihnen auftaucht. „Drei Personen sprangen ins Wasser und versuchten, zu dem Schiff zu schwimmen“, erinnert sich Samuel Abrahm. „Sie wollten bei dem Frachter um Benzin bitten. Doch die Wellen wurden immer höher. Wir haben sie danach nicht mehr gesehen.“ Auch hier kreiste die Eagle1 laut Open-Source Flugdaten über ihnen.

51 Personen werden zurück nach Libyen gebracht, zwölf Personen sterben

Am Morgen des fünften Tages auf hoher See werden die Überlebenden von einem vermeintlichen Fischerboot aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht. Wie Recherchen der New York Times offenlegen, soll es sich dabei um ein Boot handeln, das von der maltesischen Küstenwache angeheuert wurde, um im Auftrag von Malta die Flüchtenden nach Libyen zurückzubringen.

Das maltesische nationale Rettungszentrum hat sich auf Anfrage von BuzzFeed News nicht zurückgemeldet. 

Zwölf Personen sterben bei der versuchten Überfahrt. 51 Überlebende werden zurück nach Libyen gebracht.

„Einen heimlichen Pushback“, wird die Hilfsorganisation Alarmphone das wenige Tage später nennen. Ein Zurückdrängen von Menschen aus europäischen Gewässern ohne rechtliche Grundlage. Heimlich deshalb, weil dies nicht direkt von europäischen Behörden ausgeführt worden sei. 

Samuel Abrahms tödliche Reise ist kein Einzelfall. Erst vor wenigen Wochen, am Morgen des 21. April 2021, geht ein Notruf bei der Seenotrettungsorganisation Alarmphone ein: Etwa 130 Menschen sind in Seenot geraten. Sie treiben in einem Schlauchboot auf dem zentralen Mittelmeer, zwischen Libyen und Europa. 

Alarmphone verständigt die zuständigen Behörden und das Schiff „Ocean Viking“ der Seenotrettungsorganisation SOS Mediterranee. Es wird Nacht, der Wind stärker, die Wellen türmen sich bis zu sechs Meter hoch, so beschreibt es später SOS Mediterranee. 

Über dem Schlauchboot kreist ein Flugzeug, trotzdem sterben offenbar alle 130 Menschen

Über dem Schlauchboot kreist ein Flugzeug. Laut des Logbuchs der Seenotrettungsorganisation steht es im Kontakt mit der Libyschen Küstenwache. Flugdaten zeigen, dass es sich wahrscheinlich um die Osprey1, ein Überwachungsflugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex handelt. Aber eine Rettung kommt nicht. Am nächsten Tag kreist ein weiteres Frontex-Überwachungsflugzeug nur noch über dem kaputten Schlauchboot. Es treibt in einem Meer aus Leichen, so beschreibt es später ein Crew-Mitglied der Ocean Viking in einem Blogbeitrag

Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden im vergangenen Jahr knapp 11.000 Geflüchtete bei dem Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren, von der Libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgebracht. Gleichzeitig haben mindestens tausend Menschen ihr Leben auf dem zentralen Mittelmeer verloren oder gelten als vermisst.

Frontex stellt seine Überwachung am zentralen Mittelmeer seit Jahren Stück für Stück um: Vom Wasser in die Luft. Statt Schiffen, die verpflichtet sind, Menschen in Seenot aufzunehmen und in sichere Länder zu bringen, setzt Frontex nun Flugzeuge ein. Genauer: Seit 2018 hat Frontex ein privates Unternehmen beauftragt, mindestens drei Propeller-Flugzeuge für sie zu fliegen. Diese gleiten etwa von der italienischen Insel Lampedusa aus über das zentrale Mittelmeer Richtung Tunesien und Libyen. 

Im Gegensatz zu Flugzeugen müssen Einsätze von Schiffen mit den zuständigen Gaststaaten abgestimmt werden, schreibt Frontex-Sprecher Chris Borowski auf Anfrage von BuzzFeed News. „In diesem Fall ist es Italien, das das letzte Wort darüber hat, wo Ausrüstung und Personal im Rahmen der Operation Themis im zentralen Mittelmeer eingesetzt werden.“ 

Sea-Watch behauptet, dutzende Fälle zu kennen, in denen Frontex Verbrechen vertuscht habe

Die neue Strategie wird von Seenotretter:innen stark kritisiert. Es sei nicht hinnehmbar, dass Frontex vermehrt auf Flugzeuge setze, um Menschen an den europäischen Außengrenzen abzufangen, kritisiert zum Beispiel Felix Weiß von „Sea-Watch“. Auch „Sea-Watch“ überwacht mit Booten und Flugzeugen das zentrale Mittelmeer auf der Suche nach Geflüchtetenboote – wenn sie nicht in europäischen Häfen oder Flughäfen festgehalten werden.

„Unsere beiden Flugzeuge, Moonbird und Seabird, können an dutzenden Fällen beweisen, wie Frontex versucht, begangene Verbrechen zu vertuschen, Beweise aus dem Verkehr zu ziehen, ihre direkte Kooperation mit der sogenannten Libyschen Küstenwache zu verschleiern und damit jegliche Transparenz ihrer Mission zu begraben“, sagt Weiß. Laut Weiß sei dies auch am 21. April 2021 der Fall gewesen, als das Boot mit den 130 Geflüchteten in Seenot geriet. 

Die Flugzeuge können nicht selber retten, sondern nur die Position der Flüchtlingsboote an die zuständigen Behörden der Küstenstaaten durchgeben. 

„Frontex ist, wie jeder andere Akteur auf See auch, verpflichtet, die Rettungszentren zu informieren, sobald ein Boot in Not gesichtet wird. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht“, schreibt der Frontex-Sprecher. Frontex selbst koordiniere keine Such- und Rettungsaktionen.

„In einem Notfall, in dem Leben auf dem Spiel stehen, versuchen wir, Informationen über den Aufenthaltsort von Booten in Not auf jede mögliche Weise an die an der Rettungsaktion beteiligten Personen weiterzugeben“, so Borowski. Dazu gehören E-Mails, Telefonanrufe, Nachrichten und im Extremfall Mayday- und Funkrufe im Blindflug. So wie es der Fall war im April dieses Jahres, als 130 Menschen in Seenot gerieten. Sobald ein Frontex Flugzeug Menschen in Seenot sichtet, kontaktiere es die nationalen Rettungszentren in Italien, Malta, aber auch Drittstaaten wie Tunesien und Libyen.

„Wenn Frontex Libyen anruft, ist das eine indirekte Art, die Verantwortung abzugeben“

Die Kommunikation mit Libyen bedeute meist, dass Geflüchtete zurückgebracht werden, so erklärt es die Rechtswissenschaftlerin Violeta Morena-Lax von der Queen Mary University: „Wenn sie Libyen anrufen, ist das eine indirekte Art, die Verantwortung abzugeben.“ Mit dem Völkerrecht sei das nicht vereinbar. 

Libysche Küstenwache und Geflüchtete auf dem Mittelmeer.
Wenn Geflüchtete von der libyschen Küstenwache zurück nach Libyen gebracht werden landen sie oft in Lagern, in denen ihnen Folter und Tod drohen. © TAHA JAWASHI/AFP

Eigentlich darf nach internationalem Recht keine Person in einen Staat zurückgestoßen werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

Frontex plant in den kommenden Jahren weiter massiv in die Überwachung von Flüchtenden aus der Luft zu investieren. Neben den gemieteten Flugzeugen schafft sich  Frontex bereits andere Flugobjekte an: Zeppeline, Quadrokopter, Langstreckendrohnen. Die europäische Grenzschutzagentur hat deshalb zuletzt einen 50 Millionen Euro schweren Auftrag vergeben, an das israelische Rüstungsunternehmen Israel Aerospace Industries (IAI) und Airbus

Die neue Frontex-Drohne kann Objekte aus 10.000 Meter Entfernung erkennen

AIA baut und Airbus operiert die Langstreckendrohne für Frontex, die ab diesem Jahr über dem Mittelmeer kreisen soll. Sie heißt Heron, ist acht Meter lang und die hochauflösende Kamera im Inneren der Drohne kann Objekte aus bis zu 10.000 Meter Entfernung erkennen. 

Die Frontex-Drohne hat eine besonders lange Flugzeit, ist mit Wärmebildkameras ausgestattet und hat sogenannte „Daylight Spotter“-Systeme, die selbständig bewegliche „Ziele“ erkennen und im Blick behalten sowie Mobil- und Satellitentelefonen orten können. Es sind dieselben Langstreckendrohnen, die für die deutsche Bundeswehr zum Beispiel in Mali und Afghanistan fliegen. 

Die Times of Malta berichtete am 3. Mai, dass Frontex die Drohne am internationalen Flughafen in Luqa teste. Laut Open-Source Flugdaten kreist sie über dem Mittelmeer bis nahe an die libysche Küste. 

„Als das Boot mit Wasser voll lief, habe ich den Benzinkanister genommen und mich daran festgehalten“

In der Nacht vom 13. auf den 14. August 2020 legen rund 40 Personen von Libyen ab. Schnell wird ihnen klar: Das Boot hat ein Loch, Wasser tritt ein. Bis nach Europa werden sie es nicht schaffen, aber sie wollen auch nicht zurück ans libysche Festland. Aus Angst vor den ihnen drohenden Schleppern, die an der libyschen Küste auf sie warten, fahren sie weiter. Weit kommen sie nicht. 

Am Morgen des 14. August 2020 kreist ein Frontex-Überwachungsflugzeug über den Köpfen der Bootsinsass:innen, so zeigen es Flugdaten und so erzählt es ein Überlebender. „Als das Boot mit Wasser voll lief, habe ich den Benzinkanister genommen und mich daran festgehalten“, erzählt Abdullah Tavares, einer der beiden einzigen Überlebenden. 

Etwa 17 Stunden hängt er an diesem Benzinkanister und treibt im offenen Meer, dann findet ihn ein Fischerboot, so erzählt er es uns. An Land wird er von der libyschen Polizei festgenommen und kommt vorübergehend ins Gefängnis. Noch immer ist er in Libyen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft Frontex wegen solcher Vorfälle in einem Bericht von September 2020 nicht nur unterlassene Hilfeleistung vor, sondern beschuldigt die Agentur, die libysche Küstenwache dabei zu unterstützen, Menschen auf der Flucht zurückzudrängen

Frontex sagt, dass ohne Frontex noch mehr Geflüchtete ertrunken wären

Frontex dagegen verbucht die Grenzüberwachung aus der Luft als Erfolg. Die Luftüberwachung sei der Grund, warum immer weniger Menschen im Mittelmeer ertrinken würden, schreibt Fabrice Leggeri, Exekutivdirektor von Frontex, im Oktober 2020 in einem Brief an Amnesty International. „Ohne die Sichtungen von Frontex-Flugzeugen wären diese Notfälle vielleicht unentdeckt und damit unbeantwortet geblieben.“

Flugzeuge und Drohnen erreichen Gegenden, die sonst schwer zugänglich sind, weitläufige Meere, Berge oder Waldgebiete. So betont es auch die EU-Kommission im April auf Anfrage von BuzzFeed News: Die Luftüberwachung helfe den Behörden, effizienter auf Menschen in Seenot, irreguläre Grenzübertritte und kriminelle Aktivitäten zu reagieren. 

Im Frontex Jahresbericht 2020 heißt es: 

1 030 Flüge

13 170 Menschen gerettet

Was die Grenzschutzagentur nicht schreibt, beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) bezogen auf das Jahr 2020 so: 

Dass 1423 Geflüchtete ertrunken oder als vermisst gelten.

Dass 32 271 Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen, abgehalten wurden – ohne die Chance, einen Asylantrag zu stellen.

Statt innerhalb europäischer Grenzen einen Asylantrag stellen zu dürfen, wurden Samuel Abrahm und die 51 Überlebenden am Osterwochenende 2020 nach Libyen in das Lager Tarik Al Sikka gebracht, das bekannt ist für Folter und Menschenrechtsverletzungen. Das verstößt eigentlich gegen das Gebot der Nicht-Zurückweisung. Kein Mensch darf an einen Ort zurückgebracht werden, an dem er oder sie getötet oder gefoltert werden könnte. 

Männer schauen auf Bildschirme im Frontex Hauptquartier
Im Frontex-Hauptquartier in Warschau laufen die Videos der Flugzeuge ein. Selbst einzelne Bootsinsass:innen sind zu erkennen. © Screenshot aus einem PR-Video des Frontex-YouTube-Kanals

Die EU ist beteiligt, wenn illegale Pushbacks staffinden, sagt die EU-Abgeordnete Özlem Demirel

Die EU sei beteiligt, wenn illegale Pushbacks stattfinden, sagt Özlem Demirel. Sie sitzt für die Linken im EU-Parlament und hat zahlreiche parlamentarische Anfragen zur Luftüberwachung, Militarisierung an den EU Außengrenzen und Frontex gestellt. Oft habe sie auf ihre Anfragen nur unbefriedigende Antworten erhalten, sagt Demirel in einem Videotelefonat im März 2021. 

Aus den schriftlichen Anfragen vermute Sie, dass EU-Behörden auf hoher See mit der libyschen Küstenwache kommunizierten: „Diese Küstenwache bekommt die Informationen über beispielsweise Seenotfälle, über Migranten, Geflüchtete auf hoher See und kann dann Pullbacks organisieren“, sagt Demirel. 

Von einem Pullback sprechen Rechtswissenschaftler:innen, wenn Flüchtende von Drittstaaten wie Libyen davon abgehalten werden, überhaupt erst nach Europa zu gelangen – und damit in die rechtliche, europäische Zuständigkeit. 

Özlem Demirel geht davon aus, dass die Pullbacks überhaupt erst ermöglicht werden, weil Rettungsschiffe abezogen wurden und sich die Europäische Union gleichzeitig der Überwachung aus der Luft verschrieben hat.

Die Überwachung mache es Frontex leicht, sich der Verantwortung zu entziehen

Seit 2016 setzt die EU immer weniger Boote an den EU-Außengrenzen ein. Nur noch drei Schiffe patrouillieren für die aktuelle EU-Militäroperation Irini. Während Schiffe der zivilen Seenotrettungsorganisationen in den europäischen Häfen festgehalten werden, sollen kleine Propellermaschinen die Seenotrettung übernehmen – und in Zukunft auch Langstreckendrohnen. 

Die Überwachung aus der Luft verändert die Situation massiv, sagt Violeta Morena Lax von der Queen Mary University in London. Dort forscht sie zu internationalem und europäischem Flüchtlings- und Migrationsrecht. „Ein Militärfrachter könnte rund 250 Menschen retten. Ein Helikopter kann das nicht. Eine Drohne kann das nicht. Auch kein Flugzeug.“ Für Frontex sei das ein Vorteil, sagt die Rechtswissenschaftlerin. „Fluggeräte können einfacher ihr Signal ausschalten und sind so nicht mehr nachverfolgbar. Das alles macht es leichter, sich der Verantwortung zu entziehen.“

Airbus und IAI, die beiden Firmen mit dem 50-Millionen-Euro-Auftrag für Frontex-Langstreckendrohnen, sind nur zwei Unternehmen, die von der neuen Grenzstrategie profitieren. Seit 2015 boomt die Militär- und Sicherheitsfirmen-Branche, schreibt Mark Akkermann, der unter anderem für das Transnational Institute zum Thema Militarisierung an den Grenzen forscht. In seinem Bericht „Border Wars“ listet er auch Firmen auf, die zum einen die EU-Außengrenzen überwachen sollen und zum anderen – zeitgleich – Rüstungsgüter in die Herkunftsländer der Geflüchteten exportieren. 

Noch im Jahr 2015 schätzte der Bericht den Rüstungsmarkt in Europa auf 15 Milliarden Euro. Bis 2022 könnten sich diese Ausgaben fast verdoppelt haben. Der Bedarf ist groß, denn längst investiert die EU nicht mehr nur im Mittelmeer in das sogenannte „Border oder Migration Management“, auch an den europäischen Festlandsgrenzen rüstet die EU-Agentur Frontex auf.

Luftüberwachung: Quadrokopter an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien

Ein Beispiel ist die grüne Grenze zwischen Bosnien und Kroatien. 

In einer Sommernacht Mitte August 2019 harrt Ziad Amani in einem Wald aus und wartet. So wird er es ein Jahr später erklären und die NGO “Border Violence Monitoring Network” in einem Bericht schreiben. Auch Amanis Namen haben wir geändert, um seinen Aufenthaltsstatus nicht zu gefährden. 

Mehr als 20 Kilometer Fußmarsch haben Amani und neun weitere Menschen schon hinter sich. Amani ist mit 16 Jahren alleine aus Algerien aufgebrochen, an diesem Tag ist er der Jüngste in der Gruppe. Endlich liegt die kroatische Grenze in Sichtweite – und damit die EU. Beim Grenzübertritt hören Ziad Amani und seine Freunde eine kleine Drohne über sich, einen sogenannten Quadrokopter. „Sie hatten diese Lichter in der Luft, so konnten wir sie sehen“, sagt Amani. Der Quadrokopter habe etwa 100 bis 200 Meter über ihnen gesurrt. 

Ziad Amani sagt, er kenne Drohnen von Landschaftsaufnahmen und Hochzeitsbildern, sein Onkel sei Fotograf. Diese Quadrokopter aber haben einen anderen Auftrag. Sie werden dafür eingesetzt, dass Geflüchtete wie Ziad Amani nicht über die Grenze nach Kroatien gelangen. Und sie können auch etwas, was Beamte mit dem bloßen Auge nicht können: Sie sehen auch nachts. 

Kroatische Grenzschützer sollen Geflüchtete geschlagen und gewürgt haben

Es ist morgen als die Gruppe etwa 15 Kilometer weiter von den kroatischen Behörden aufgegriffen wird. Statt sie einen Asylantrag stellen zu lassen, hätten die Grenzschützer den Flüchtenden ins Gesicht geschlagen. Ein Mann sei mit seinem T-Shirt gewürgt worden. Schließlich seien sie über die Grenze zurückgebracht worden, so beschreibt es das Border Violence Monitoring Network in einem Bericht. 

Die Organisation arbeitet an der Grenze von Bosnien und Kroatien. Jack Sapoch, der zum Netzwerk gehört, geht davon aus, dass die Quadrokopter, die in dieser Nacht über Ziad Amani kreisten, zum kroatischen Innenministerium gehören. Das kroatische Innenministerium hat sich auf Anfrage von BuzzFeed News nicht zu seinem Drohnen-Equipment oder den Vorfällen an den Grenzen geäußert.  

Die Quardrokopter sind mit vier Rotoren betriebener Miniatur-Hubschrauber. Sind sind ist wendiger, billiger und einfacher zu steuern als die Langstreckendrohnen, die über dem Mittelmeer kreisen sollen – und unauffälliger. 

Sie können Menschen im Tageslicht über zehn Kilometer, nachts über drei Kilometer Distanz erfassen, sind mit Wärmebildkameras ausgestattet und können Objekte aus einer Höhe von mindestens 2500 Metern beobachten. So steht es in einer Ausschreibung des kroatischen Innenministeriums 2020. Auch wenn Flüchtende die Grenze nach Kroatien längst überquert haben, so wie Amani und seine Freunde, können sie von den Quadrokoptern weiter verfolgt und später mit Hilfe von Grenzschützern aufgegriffen werden. 

Aeronautics, Erickson Nikola Tesla, Delair sind Hersteller der Grenzschutz-Drohnen

Kroatien investiert seit 2017 in Drohnen zum Schutz der Landesgrenze zu Bosnien, zum Teil aus EU-Geldern finanziert. Die Hersteller der Quadrokopter sind internationale Größen wie Aeronautics, Erickson Nikola Tesla, Delair. 

„Die Technologien verhindern nicht, dass die Menschen die Grenzen überqueren – sondern erleichtern es den Behörden, Gruppen festzunehmen, sobald sie in Kroatien sind. Und sie dann abzuschieben“, kritisiert Jack Sapoch vom Border Violence Monitoring Network. Das Netzwerk hat mehr als 1000 Fälle von Gewalt, Folter und Pushbacks entlang der Balkan-Route mit Zeugenaussagen dokumentiert. 

Ziad Amani schafft es schließlich beim vierten Mal über die Grenze nach Kroatien, erzählt er, von dort zieht es ihn weiter bis in die Niederlande. Wenn man ihn heute fragt, ob er Angst hatte, sagt er, er habe keine andere Wahl gehabt. 

Solche Quadrokopter, die Kroatien jetzt schon einsetzt, sollen bald auch für Frontex fliegen. Per Ausschreibung hat die Grenzschutzagentur nach Firmen gesucht, die für zwei Millionen Euro Quadrokopter für 15 Länder an der EU Außengrenze zur Verfügung stellen. Der Vorteil der Quadrokopter sei, dass sie in größerem Umfang verfügbar seien als Langstreckendrohnen – und in einer niedrigen Höhe fliegen können, schreibt die EU-Kommission auf Anfrage. 

Frontex-Eingangsschild in Warschau.
Der Frontex-Hauptsitz in Warschau. Von hier soll die Agentur die europäischen Grenzen schützen. © WOJTEK RADWANSKI/AFP

Frontex investiert nicht nur in Flugzeuge, sonern auch in Drohnen – und Zeppeline

Im Gegensatz zu Flugzeugen und Langstreckendrohnen, die ebenso ihr Signal ausstellen können, lassen sich die Flugdaten der Quadrokopter erst gar nicht nachverfolgen.

Neben Drohnen und Quadrokoptern investiert die EU aktuell bei der Grenzüberwachung in ein weiteres Flugobjekt: 2019 testete die EU ein Luftschiff auf der Insel Samos. Nur zwei Kilometer Meer trennen die griechische Insel hier vom türkischen Festland, eine stark frequentierte Fluchtroute. Rund um die Uhr soll der Zeppelin die Gegend überwachen. 

Bislang war der Frontex-Zeppelin nur ein Test. Aber noch in diesem Jahr soll ein weiterer Zeppelin die Grenzregion zwischen Bulgarien und der Türkei überwachen. Eine Gegend voll dichter Wäldern, die durch die Überwachungstechnologie virtuell „entlaubt werden soll“ – die EU spricht von einer technischen Laubdurchdringung durch das Zusammenspiel verschiedener Sensoren und Kameras. 

Das Forschungsprojekt dazu heißt „Fold-Out“ und wenn es startet, sollen hier verschiedene Überwachungstechnologien zusammen spielen: Satelliten, ein Zeppelin, Drohnen und die Grenzüberwachung am Boden. Der Testpilot einer Rundum-Überwachung, nahezu voll automatisiert, von 2000 Kilometer Höhe bis runter auf den Boden. Die EU lässt sich das Projekt in den kommenden Jahren allein an dieser Grenze rund acht Millionen Euro kosten. 

Die Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium des Investigative Journalism for Europe Fund. Mitarbeit: Luisa Izuzquiza, Phevos Simeonidis, Daniela Sala.

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