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HIV-Spezialist wird wegen sexuellen Missbrauchs zu 36.000 Euro Strafe verurteilt

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Von: Juliane Löffler

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Die Eingangshalle des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin
Die Eingangshalle des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin © Ippen Investigativ

Bereits vor vielen Jahren wurde dem weltweit anerkannten Mediziner erstmals vorgeworfen, er missbrauche seine Stellung als Arzt. Nun wurde ein Urteil gefällt – doch abgeschlossen ist der Fall womöglich noch nicht.

Am 22. Verhandlungstag erschallt ein Schrei vor dem Saal 135 des Amtsgerichtes Berlin. Zwei Männer umarmen sich im Flur, umringt werden sie von mehreren Vertrauten. Sie alle waren gekommen, um einen der Opferzeugen zu unterstützen. Der verurteilte Arzt Heiko J. und seine Rechtsvertreter waren da längst den Gang hinunter verschwunden und nicht mehr zu sehen.

Das Urteil wegen sexuellen Missbrauchs: 150 Tagessätze à 300 Euro

An diesem Montag ist der Berliner HIV-Spezialist Heiko J. in einem Fall wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung des Behandlungsverhältnisses zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 300 Euro verurteilt worden. 30 Tagessätze wurden ihm erlassen, da das Verfahren außergewöhnlich lange gedauert hatte.

In drei weiteren Fällen wurde Heiko J. freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte elf Monate auf Bewährung in drei Fällen gefordert. Ein weiterer Fall war abgetrennt worden, weil die Zeugin, eine trans Frau, derzeit psychologisch nicht vernehmungsfähig ist. In einem fünften Fall hatte die Staatsanwaltschaft auf Freispruch plädiert. Zu Gunsten des Arztes berücksichtigte das Gericht, dass Heiko J. bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten war und durch das Verfahren persönlich erheblich belastet wurde – sowohl weil sich das Verfahren über so lange Zeit gezogen hatte, als auch durch die Presseberichterstattung zu dem Fall. Die sexuelle Handlung an seinem Patienten sei zudem sehr kurz gewesen und bewege sich nicht am oberen Rand von dem, was vorstellbar ist, so der Vorsitzende Richter Rüdiger Kleingünther.

Dennoch war nach dem Urteil vor dem Saal mitunter Erleichterung zu beobachten. „Sehr froh“ sei er, sagte der Opferzeuge, in dessen Fall die Verurteilung ergangen war, auch wenn er bedauere, dass der Arzt nur in seinem Fall verurteilt wurde. Der Zeuge war zu fast jedem Prozesstermin erschienen. Auch seine Rechtsvertreterin Undine Weyers sagte: „Ich bin sehr froh, dass es eine Verurteilung gab. Ich hätte sonst den Glauben an den Rechtsstaat verloren.“ Der Verteidiger des Arztes, Stefan König, wollte kurz nach dem Urteil keinen Kommentar abgeben.

MeToo-Vorwürfe waren in Berlin mehr als sechs Monate verhandelt worden

Über ein halbes Jahr waren die MeToo-Vorwürfe vor einem Schöffengericht verhandelt worden. Die in dem Prozess verhandelten Vorwürfe reichen jedoch sehr viel weiter zurück, fast ein Jahrzehnt. Und so war es ein mühsamer Prozess für alle Beteiligten. In akribischer Detailarbeit versuchte das Gericht Situationen im Arztzimmer zu rekonstruieren, welche nicht nur viele Jahre zurückliegen, sondern auch größtenteils eins-zu-eins Situationen waren. Die Opferzeugen mussten sich stundenlangen, teils aggressiven Befragungen durch die Verteidigung stellen – vor allem durch Johannes Eisenberg, einen der Anwälte des HIV-Spezialisten. 

Am Ende überwogen beim Amtsgericht die Zweifel. Auch deshalb sprach das Gericht Heiko J. in drei weiteren Fällen frei. Zu groß waren die Erinnerungslücken in einem Fall, zu unklar in einem zweiten, ob der Zeuge überhaupt die psychischen Voraussetzungen besaß, um eine den Tatsachen entsprechende Aussage zu machen. Und auch in einem dritten Fall wisse das Gericht schlicht nicht, was wirklich geschehen sei. Es gelte daher der Zweifelsgrundsatz, so Kleingünther – also im Zweifel für den Angeklagten.

MeToo-Vorwürfe gegen Arzt: Kommentare, Küssen, Berührungen

Dem Arzt war vorgeworfen worden, seine Position als Behandler ausgenutzt zu haben, um sich an seinen homosexuellen Patienten in fünf Fällen sexuell zu erregen. Von anzüglichen Kommentaren war in der Verhandlung die Rede gewesen, von Untersuchungen an vollständig entkleideten Patienten, von Küssen im Behandlungszimmer und auch von unangemessenen Berührungen seiner Patienten an Penis und Prostata. Von diesen Vorwürfe wurde der Arzt durch das Gerichtsurteil fast vollständig freigesprochen – verurteilt wurde er, weil er in einem Fall seinen Patienten ohne medizinische Notwendigkeit am Penis manipuliert habe. 

Der Arzt hatte während des gesamten Prozess alle Vorwürfe von sich gewiesen. Er habe stets nach medizinischen Standards gehandelt. Die Verteidigung des Arztes hatte vorgetragen, es handele sich um Missverständnisse – und betonte die Verdienste, teils auch die ungewöhnlich progressiven Untersuchungsmethoden, der großen schwulen Kiezpraxis.

Die Vorwürfe gegen den Mediziner aber gehen weit über das hinaus, was in den vergangenen Monaten im Amtsgericht Berlin-Moabit verhandelt wurde.

Mehr als 50 Männer schilderten MeToo-Vorwürfe in Recherche von BuzzFeed News

BuzzFeed News Deutschland (heute: Ippen Investigativ*) und VICE hatten im September 2019 nach monatelanger Recherche erstmals öffentlich über die mutmaßlichen sexuellen Missbrauchsvorwürfe berichtet. Die Veröffentlichung wurde in erster Instanz abgemahnt und rund ein Jahr später vom Kammergericht Berlin in weiten Teilen wieder zugelassen.

Nach der ersten Berichterstattung vor fast zwei Jahren meldeten sich mehr als 60 weitere Personen bei BuzzFeed News/Ippen Investigativ, um von weiteren Vorwürfen gegen Heiko J. zu berichten. Mehr als 50 Männer schilderten mutmaßliche Grenzverletzungen, Übergriffe und sexuellen Missbrauch, die sie selber, so sagen sie, durch den Arzt erlebt hätten. Die Erzählungen dieser angeblichen Ereignisse erstrecken sich auf einen Zeitraum von 1997 bis 2019. Mit sieben weiteren Personen hatten BuzzFeed News und VICE bereits für die erste Recherche ausführlich gesprochen.

Alle von uns veröffentlichten Recherchen hatten wir damals auf mehreren Seiten detailliert konfrontiert. Auf die darin enthaltenen Schilderungen der Quellen war der Arzt nicht detailliert eingegangen, er hatte die Vorwürfe aber in vorhergehenden Schriftsätzen immer wieder pauschal bestritten. Um detailliert zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, verlangte Anwalt Johannes Eisenberg die Namen der mutmaßlich Betroffenen. Aus Quellenschutzgründen konnten wir diese nicht vorlegen. Die von den mutmaßtlich Betroffenen aufgestellten Behauptungen haben wir mit allen Möglichkeiten der journalistischen Sorgfaltspflicht überprüft, auch anhand von zahlreichen Dokumenten, Nachrichten und durch Gespräche mit Vertrauten der Quellen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Missbrauchsvorwürfe gegen den Arzt waren seit Jahren bekannt

Unsere Recherchen hatten gezeigt, dass die Vorwürfe gegen den Arzt über viele Jahre bekannt waren. Bereits 2013 hatte die Ärztekammer zu den Vorwürfen ermittelt, dort wurden seit 2002 mindestens zehn Verwaltungsvorgänge zu dem Arzt angelegt, darunter zwei Ermittlungsverfahren wegen mutmaßlichem sexuellen Missbrauch. Worum es in den anderen Fällen inhaltlich geht, teilte die Ärztekammer auf Anfrage nicht mit. Auch die Polizei ermittelte, 2014 übernahm die Staatsanwaltschaft, zwei Jahre später erhob diese schließlich Anklage. 

Dass es bis 2021 dauerte, bis der Prozess eröffnet wurde, lag laut der Pressestelle des Amtsgerichts daran, dass der Fall besonders streitig sei und auf Grund des großen Umfangs schwierig zu terminieren – ursprünglich waren von dem Gericht elf Verhandlungstage angesetzt worden. Bis zu unserer Veröffentlichung im Herbst 2019 waren die Vorwürfe zwar innerhalb der queeren Community bekannt gewesen, jedoch nicht öffentlich gemacht worden.

Auch vor diesem Hintergrund hat das Urteil eine Signalwirkung, die weit in die queere Szene hineinreichen dürfte. „Das Verfahren hat unheimlich viel losgetreten in der Szene, um den Mut zu finden, darüber zu sprechen“, sagte Nebenklägervertreterin Barbara Petersen. Der überwiegende Teil der Anzeigen wegen Missbrauchs werde üblicherweise schon im Vorfeld eingestellt, sie sei daher sehr froh, dass überhaupt eine Verurteilung am Ende dieses Prozesses stehe. Petersen betonte auch, wie strapaziös das gesamte Verfahren gewesen sei, auch für ihren Mandanten, den das ganze Verfahren erheblich mitgenommen habe – und in dessen Fall Heiko J. dennoch freigesprochen wurde. Den Prozess habe sie als „Haifischbecken“ erlebt, der Arzt habe allein durch seine umfangreiche Rechtsvertretung bessere Chancen gehabt. „Ich verstehe, wenn Leute sich da nicht hinbegeben“, sagte Petersen.

Unverständnis bei den Anwältinnen der Nebenkläger

Weitere Begründungen, welche der Vorsitzende Richter Kleingünther bei der Urteilsbegründung angeführte, stießen hingegen bei den Nebenklagevertreterinnen auf Unverständnis. In einem Fall begründete dieser den Freispruch damit, dass es sich um eine Begegnung von zwei Männern gehandelt habe, „ohne Zwang, Täuschung und Irrtum“. Das Machtgefälle zwischen Arzt und Patient war für das Gericht zumindest in diesem Fall nicht relevant.

Der entsprechende Strafrechtsparagraph stelle sexuelle Kontakte zwischen Arzt und Patient nicht grundsätzlich in Frage, sagte Kleingünther. Dass dieser Paragraph vor knapp zwei Jahrzehnten eigens geschaffen wurde, um die besondere Abhängigkeit zwischen Arzt und Patient zu berücksichtigen veränderte die Bewertung des Richters offenbar nicht. Auch nicht,dass der Bundesgerichtshof schon mehrfach und vor vielen Jahren klar stellte, dass Einvernehmlichkeit im Arzt-Patienten-Verhältnis nicht automatisch zu Straffreiheit führt.

Im Fall von Petersens Mandanten sah das Gericht im Gegenteil zu viele Hinweise, dass er ein „über die Strafverfolgung hinausgehendes Interesse habe“. Etwa, dass der Mann bereits in die Praxis ging, um den Arzt Unrecht nachzuweisen – auch, weil er sich mit mindestens einer weiteren Nebenklägerin ausgetauscht hatte. Der Mann habe auch, so das Gericht, bereits vor dem fraglichen Termin die Überzeugung gehabt, ein Arzt habe prinzipiell mehr Macht als ein Patient.

Das verstehe sie überhaupt nicht, sagte Petersen kurz nach dem Urteil. Glücklicherweise habe ihr Mandant nach weiteren Betroffenen gesucht, um den Prozess nicht alleine bestreiten zu müssen. Darin sehe sie mitnichten ein gesteigertes Verfolgungsinteresse.

Nach MeToo-Urteil: Wird dem Arzt die Approbation entzogen?

Ob der Fall Heiko J. mit diesem Urteil abgeschlossen sein wird, ist noch offen, das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Weder die Staatsanwältin, noch die Verteidiger:innen des Arztes oder die Nebenklagevertreterinnen konnten heute schon sagen, ob sie Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen werden. 

Auch, was dieses Urteil für die berufliche Zukunft des Mediziners bedeutet, wird sich erst zeigen. Für die Zulassung des Arztes ist das Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin (Lageso) zuständig. Bereits im November 2016 wurde dort mit einer schriftlichen Anhörung des Arztes ein Verfahren gegen Heiko J. eingeleitet, hieß es auf Anfrage. Das Lageso wollte prüfen, ob die Approbation des Arztes möglicherweise zum Ruhen gebracht werden sollte. Damit dürfte er für einen längeren Zeitraum nicht praktizieren. Das gesamte Verfahren des Lageso wurde jedoch kurz darauf ausgesetzt – die Sach- und Rechtslage sei nicht ausreichend belastbar geklärt, teilte die Pressestelle vor wenigen Monaten auf Anfrage mit. Mit dem erstinstanzliche Urteil aus dem Strafprozess könnte das Lageso die Lage nun neu bewerten.*Ippen Investigativ ist das Rechercheteam von IPPEN.MEDIA.

UPDATE: 12.11.2021
Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung haben gegen das Urteil Berufung eingelegt, teilte die Pressestelle des Amtsgerichts Berlin auf Anfrage mit. Das Verfahren wird damit an das Landgericht überstellt. Wann dort verhandelt wird, steht noch nicht fest.

Sie haben selbst Missstände erlebt oder Hinweise und Dokumente zu Machtmissbrauch, die unser Rechercheteam interessieren könnten? Wenden Sie sich vertraulich an recherche@ippen-investigativ.de

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