Tellal erinnert sich außerdem an einen Tag im April 2016, als G. und B. sie vor anderen Angestellten bedrängt hätten. Sie habe angefangen zu schreien und den Männern mit der Arbeitsaufsicht gedroht. Zwei Tage später sei sie von einer Arbeiterin angegriffen worden. Diese habe ihr in der Toilette den Kopf gegen die Wand geschlagen und sie gewürgt. „Sie hat mich zu Boden geworfen. Ich habe gedacht, heute werde ich sterben“, sagt Tellal, die sich sicher ist, dass die Frau von ihren Chefs geschickt wurde.
Ihre Kollegin Leila Touzani erinnert sich an den Vorfall und gibt an, Tellals Schreie auf der Toilette gehört zu haben. Auch der Chef von Vilhet Fruit habe das Rufen gehört. Touzani gibt an, sie habe den Mann gebeten, die Polizei zu alarmieren, dieser habe stattdessen jedoch Ahmed B. und Hassan G. informiert. Tellal wird am Hals und am Kopf verletzt. Ein ärztliches Schreiben, dass ihre Verletzungen dokumentiert, liegt BuzzFeed News vor. Doch Laboral Terra habe den Unfall nicht gemeldet. Stattdessen wird Tellal nur einen Tag nach dem Vorfall entlassen. Ein entsprechendes Schreiben, das dies bestätigt, liegt BuzzFeed News vor.
Weder Laboral Terra noch Vilhet Fruit äußerten sich auf Anfrage zu den Vorwürfen.
Heute arbeitet Tellal nicht mehr bei Vilhet Fruit oder für Laboral Terra. Doch auch nach der Kündigung sei sie vor ihren ehemaligen Chefs nicht sicher, sagt Tellal. Auch nicht in dem Unternehmen, in dem sie bis vor Kurzem gearbeitet hat. Sie sagt, sie habe ihren Chef dort, einen französischen Landwirt, dazu gebracht, nicht mehr mit Laboral Terra zusammenzuarbeiten. Vier Männer, darunter der Verwalter und der Manager von Laboral Terra in Frankreich, hätten sie deshalb im Jahr 2017 an ihrer neuen Arbeitsstelle aufgesucht, um sie einzuschüchtern. „Sie haben mir gesagt, dass es unmöglich sei, Laboral Terra zu verlassen“, sagt Tellal. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tellal das Unternehmen bereits angezeigt – gemeinsam mit Leila Touzani.
BuzzFeed News hat der Anwältin von Laboral Terra diese Vorwürfe mit Bitte um Stellungnahme zukommen lassen. Eine Antwort blieb jedoch aus.
Im Gegensatz zu Tellal will Touzani in diesem Artikel nicht unter ihrem richtigen Namen genannt werden. Die fortwährende Belästigung hat sie schwer mitgenommen. Sie leidet unter Depressionen, kann nicht mehr arbeiten und verlässt ihr Haus nur selten. Und sie hat Angst, dass die beschuldigten Unternehmen und ihre ehemaligen Vorgesetzten ihr schaden könnten. BuzzFeed News trifft sie in einem Café in der südfranzösischen Region Bouches-du-Rhône. Touzani schaut während des Interviews immer wieder über die Schulter. Sie hat Angst davor, dass sie belauscht wird – und dass die Männer auftauchen könnten, für die sie gearbeitet hat.
Touzani hat gemeinsam mit Yasmine Tellal von Mitte September 2013 bis Januar 2014 für ein Unternehmen namens „Qualit Prim Services“ gearbeitet und auf dessen Feldern Salate geschnitten. Touzani sagt, sie habe dort Arbeitstage gehabt, an denen sie dreizehn Stunden hätte arbeiten müssen – von 8 bis 21 Uhr, mit nur einer halben Stunde Pause. Während der Arbeitszeit habe sie eigentlich nicht auf Toilette gehen dürfen, dies aber trotzdem getan. „Um nicht umzukippen, habe ich heimlich auf der Toilette Bonbons gegessen, wie ein Tier“, sagt sie. „Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl hatte, noch weniger wert zu sein als ein Hund.“
BuzzFeed News hat mehrfach versucht Qualit Prim Services per Mail sowie telefonisch zu erreichen. Die auf der Webseite angegebene Mailadresse funktionierte nicht, beim Versuch den Geschäftsführer telefonisch zu erreichen sagte dieser der Reporterin gegenüber, dass er sehr beschäftigt sei und keine Zeit habe auf eine Anfrage zu antworten. Auf den Hinweis, dass die Vorwürfe dann ohne seine Stellungnahme veröffentlicht würden sagte er: „Das ist nicht schlimm, auf Wiedersehen“, und legte auf.
‚‚Wenn du am Abend geduscht hast, war das Wasser gelb“
Auch Mohamed Zaanoun, der Arbeiter, der beobachtet haben will, wie Vorgesetzte Kolleginnen sexuell belästigt haben, berichtet von Verstößen gegen arbeits- und gesundheitsrechtliche Bestimmungen. Er arbeitet seit April 2014 für „La Darmane“, ein Unternehmen in Avignon, das Gemüse, Obst und Getreide produziert. Dort wird er in Gewächshäusern für Tomaten eingesetzt. Er habe mehrfach Pestizide versprühen müssen, ohne, dass das Unternehmen ihm Schutzkleidung bereit stellte, sagt Zaanoun. Er sei danach auch nicht von einem Arzt untersucht worden, obwohl ihm das rechtlich zugestanden hätte. ‚‚Wenn du am Abend geduscht hast, war das Wasser gelb“, sagt er. Der Kontakt mit zu viel Pestiziden kann zu Krankheiten wie Krebs oder Parkinson führen.
Der Chef des Unternehmens habe mindestens einmal Pestizide mit dem Traktor ausgefahren, während die Erntehelfer gleichzeitig in den Gewächshäusern gearbeitet hätten, sagt Zaanoun. Der Chef selbst habe die Fahrertür geschlossen gehalten und sei nicht mit den Chemikalien in Kontakt gekommen – im Gegensatz zu den Arbeitern. Zaanoun sagt, er habe seinen Kollegen daraufhin gesagt, sie sollten die Gewächshäuser sofort verlassen. „Wir konnten auf keinen Fall unter solchen Bedingungen weiter arbeiten‘‘, sagt er BuzzFeed News.
Erst Ende Juni diesen Jahres habe er einen Kollegen ins Krankenhaus bringen wollen. Zaanoun ist zu diesem Zeitpunkt nicht über „Laboral Terra“, sondern über eine andere Leiharbeitsfirma bei „La Darmane“ angestellt. Das Gesicht des Kollegen sei während der Arbeit in den Tomaten angeschwollen. Der Mann habe aber Angst gehabt, dass ihm deshalb gekündigt würde.
„Es liegt in der Verantwortung des Arbeitgebers, sich um ihre Angestellten zu kümmern und sie ins Krankenhaus zu bringen, wenn sie es müssen“, sagt Zaanoun. Der Kollege sei letztendlich medizinisch versorgt worden, habe von dem Unternehmen aber keine ärztliche Bescheinigung über einen Arbeitsunfall bekommen.
BuzzFeed News war es nicht möglich La Darmane mit den Vorwürfen zu konfrontieren, da keine der angegeben Telefonnummern für die Reporterinnen erreichbar war. Der Versuch einen Kontakt über eine Leiharbeitsfirma, die mit La Darmane zusammenarbeitet, zu erhalten verlief erfolglos.
Seine große Hoffnung auf ein besseres Leben in Frankreich sei schnell verpufft, sagt Zaanoun: „Ich hatte gehört, in Frankreich wirst du Freiheit, Gleichheit bekommen. Aber als ich hier angekommen bin, gab es davon überhaupt nichts.“ Rechte gebe es für Menschen wie ihn nicht.
Zaanoun arbeitet seit Jahren regelmäßig für La Darmane. Meist sind es fünf oder sechs Monate im Jahr, 2018 waren es sogar neun Monate. Trotzdem erhält er nie einen festen Vertrag. Seine Anwälte argumentieren deshalb, dass Firmen wie Laboral Terra und La Darmane Zaanoun um tausende Euro Lohn und den französischen Staat um Sozialabgaben betrogen haben.
Ein entscheidender Punkt ist dabei, dass Laboral Terra Arbeiter wie Zaanoun als ausländische Leiharbeiter ausgewiesen hat, obwohl dieser seinen permanenten Wohnsitz in Frankreich hatte. In den Dokumenten, die BuzzFeed News vorliegen, schreiben die Anwälte daher, Mohamed Zaanoun könne unmöglich als Leiharbeiter bezeichnet werden. Die von Laboral Terra ausgestellten Kurzzeitarbeitsverträge seien ein erheblicher Verstoß gegen die Rechte der Arbeiter.
Dies habe es Laboral Terra ermöglicht, Sozialabgaben und Mindestlohn nach spanischem Arbeitsrecht zu zahlen – die jedoch niedriger sind als in Frankreich. Folgt man den Ausführungen der Anwälte, dann war das Vorgehen der Leiharbeitsfirma nicht nur darauf ausgelegt, Kosten zu minimieren, sondern kriminell.
Mithilfe ausländische Leiharbeiter in der Landwirtschaft Geld zu sparen ist in Frankreich ein beliebtes Modell – und immer wieder Gegenstand politischer Diskussionen. Im Juni 2018 beschloss das Parlament deshalb eine Gesetzesänderung, um Sozialdumping, Schwarzarbeit und Ausbeutung im Niedriglohnsektor stärker zu bekämpfen. Seitdem soll der Grundsatz gelten: „Gleicher Lohn, am gleichen Ort für gleiche Arbeit.“ Muriel Pénicaud, die französische Arbeitsministerin, kündigte verstärkte Arbeitskontrollen und schwarze Listen für Unternehmen an, die gegen das Gesetz verstoßen.
Für Yasmine Tellal und ihre Mitstreiter kommt diese Initiative zu spät, sie können nur darauf hoffen den Schaden, der ihnen entstanden ist, rückwirkend einzuklagen.
Im Jahr 2017 waren mehr als eine halbe Million sogenannte „entsandte Arbeiter“ in Frankreich beschäftigt, fast doppelt so viele wie im Jahr 2016. Allein in der Landwirtschaft stellten sie mehr als ein Fünftel aller Arbeiter und Arbeiterinnen.
Das liegt auch daran, dass Franzosen für die Arbeit auf dem Feld nicht zu gewinnen sind. „Erwerbslose Franzosen wollen schon seit langer Zeit nicht im landwirtschaftlichen Sektor arbeiten. Es ist ihnen zu schwer oder sie haben einfach keine Lust darauf“, sagt Patrick Lévêque, der Präsident der landwirtschaftlichen Gewerkschaft FNSEA in der Region Bouches-du-Rhône, BuzzFeed News. „Deshalb gibt es keine lokalen Arbeitskräfte mehr. Die spanischen Leiharbeitsfirmen reagieren auf diesen Mangel an Erntehelfern.“
So argumentieren auch die Anwälte der angeklagten Unternehmen vor Gericht. An einem Verhandlungstag vor dem Arbeitsgericht im Mai, bei dem BuzzFeed News anwesend war, gab der Anwalt des Unternehmens Coccolo an, dass Landwirte nur auf Leiharbeiter zurück griffen, weil dies wirtschaftlich notwendig sei, um am Markt zu bestehen.
Das Verfahren sei politisch motiviert. „Dies ist ein politischer und ein gewerkschaftlicher Prozess“, so der Anwalt des angeklagten Unternehmens „SARL Le Clos des Herbes“ im Gespräch mit BuzzFeed News nach der Verhandlung. „Es ist eine Sache, Leiharbeit anzuprangern, aber hier werden Landwirte als Sündenböcke benutzt oder gar als Bösewichte dargestellt.“
Das Arbeitsgericht hat die Urteilsfindung vorerst vertagt, weil noch ein weiterer Richter hinzugezogen werden soll. Der nächste Verhandlungstermin ist für Anfang Dezember angesetzt.
Laboral Terra hat derweil am 13. Juni 2019 Insolvenz angemeldet, stellt aber aktuell, zumindest in Spanien, weiter ein. Die Anwältin von Laboral Terra, Nadia El Bouroumi, sagt im Gespräch mit BuzzFeed News, ihre Klienten seien keine Millionäre und respektierten das Gesetz. „Und wenn du als Leiharbeitsfirma das Gesetz respektierst, kannst du am Ende deinen Lebensunterhalt nicht verdienen.“
Béatrice Mesini, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Aix-Marseille, glaubt dagegen, dass die Insolvenz von Laboral Terra Kalkül gewesen sei, um Schadensersatzforderungen auszuweichen. So sei es auch bei einem Unternehmen in der Region Crau gewesen. Dort hätten 450 Erntehelfer ihr Unternehmen zunächst bestreikt und nicht ausbezahlte Überstunden eingefordert. Die Summe belief sich laut Mesini auf mehr als 200.000 Euro. Der Arbeitgeber habe angegeben, die Sache klären zu wollen – stattdessen aber am nächsten Tag Insolvenz angemeldet, um damit Schadensersatzzahlungen zu entgehen. „Sie machen das, wenn sie sonst nichts mehr machen können, wenn sie keine andere Wahl mehr haben“, glaubt auch der Anwalt von Yasmine Tellal, Farid Faryssy.
„Die sexuelle Belästigung interessiert sie nicht“
Und auch das Verfahren am Strafgericht entwickelt sich in eine Richtung, die die Arbeiter und Arbeiterinnen um Yasmine Tellal enttäuscht, wütend und besorgt zurücklässt. Als der Anwalt Faryssy im Mai beim Gericht in Avignon vorstellig wird, erfährt er, dass die von seinen Mandantinnen erhobenen Vorwürfe sexueller Belästigung nicht Gegenstand des Verfahrens sind. Stattdessen wird gegen die Vorgesetzten von Laboral Terra wegen Sozialversicherungsbetrug und Beihilfe zur illegalen Einreise nach und Aufenthalt in Frankreich ermittelt. Yasmine Tellal und Leila Touzani treten in den Akten nur als Zeuginnen, nicht als Nebenklägerinnen auf.
BuzzFeed News hat den ermittelnden Staatsanwalt am Strafgericht in Avignon angefragt, warum die Vorwürfe sexueller Belästigung kein Teil der Klageschrift sind. Der Staatsanwalt hat darauf nicht geantwortet.
„Die sexuelle Belästigung und Erpressung, die meine Mandantinnen erdulden mussten, interessiert sie nicht“, sagt Faryssy. „Auch wenn sie natürlich darüber gesprochen haben, erscheint es nicht in der Klageschrift.“ Doch aufgeben will Faryssy noch nicht, stattdessen will er eine neue Klage wegen sexueller Belästigung für alle mutmaßlich betroffenen Frauen beim Strafgericht einreichen. „So etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt er.
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