Er ist einer von fünf Nebenkläger:innen, die ihren ehemaligen Arzt belasten. Angeklagt ist ein 63-jähriger HIV-Arzt wegen sexueller Belästigung unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses. Seine Praxis ist eine stadtbekannte Anlaufstelle für schwule Männer, unter anderem spezialisiert auf die Behandlung von Geschlechtskrankheiten.
Der Prozess hatte Mitte April begonnen und wird bis voraussichtlich September andauern. Auch sein Mandant leide unter dem langen Verfahren und den Vorwürfen, hatte Strafverteidiger Johannes Eisenberg in einer der vergangenen Verhandlungen angeführt.
BuzzFeed News Deutschland und VICE hatten die Vorwürfe im September 2019 erstmals öffentlich gemacht. Der Arzt weist alle Vorwürfe von sich – er habe grundsätzlich kein sexuelles Interesse an seinen Patient:innen, Intimuntersuchungen fänden nach medizinischen Standards statt. Die Verteidigung argumentierte, bei den Vorwürfen handele es sich um eine organisierte Kampagne gegen den weltweit anerkannten Mediziner.
Bei drei der insgesamt fünf Nebenkläger:innen ist die Vernehmung bereits abgeschlossen, einer von ihnen sagte unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Die fünfte Person ist laut eines psychologischen Gutachtens dauerhaft nicht verhandlungsfähig. Am gestrigen Donnerstag kam somit der letzte der Nebenkläger erneut zu Wort, seine Befragung wurde an zwei Terminen angesetzt und nach einer kurzen Erkrankung fortgeführt.
Ähnlich wie ein bereits vernommener Zeuge hatte der Mann dem Gericht ein Gedächtnisprotokoll vorgelegt, welches wenige Tage nach dem mutmaßlichen Missbrauch in der Praxis im Mai 2013 entstanden sein soll und die Vorwürfe sowie seine Reflexionen darüber dokumentiert. Die Verteidigung äußerte während der Befragung Zweifel an der Authentizität des Dokuments.
Kompliziert macht es, dass es zwei Versionen der Aufzeichnungen gibt. Eine ist laut des Zeugen, ein Akademiker, ein spontan niedergeschriebener Entwurf. Doch es gibt eine weitere überarbeitete und bereinigte Version, welche er später seiner Anwältin übergeben hatte. Ein für ihn normaler Arbeitsweg, sagte er aus, Dokumente nicht in Kladdenform abzugeben. Noch komplizierter wird es, weil der Mann nicht ausschließen kann, auch das erste Dokument nachträglich verändert zu haben. Die letzte Bearbeitung datiert auf einen Termin viele Monate nach dem Erstellungsdatum. Ob nachträglich nur einige Kommata oder ausführlichere, reflektierende Gedanken hinzugefügt habe, konnte er nach den vielen Jahren nicht mehr erinnern.
Was in der Befragung als mühsames Stochern nach Details erscheint, kann für die Verteidigung und die Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen großen Wert haben. Wichtig dürfte etwa sein, ob er schon wenige Tage nach dem Arztbesuch, oder erst viele Monate später diese Einschätzung dokumentierte: Die größte Verletzung sei das unabgesprochene Eindringen mit den Fingern in seinen Anus gewesen. „Wenn ich darüber nachdenke, ist das sexuelle Belästigung.“
Noch komplizierter wird es, weil der Zeuge den medizinischen Akten zufolge am selben Tag, auf den das Gedächtnisprotokoll datiert, für eine weitere Behandlung in der Praxis gewesen sein soll. Ob das stimmt, erinnert der Zeuge nicht mehr. Die Staatsanwältin hatte in der vorhergehenden Verhandlung Zweifel geäußert, ob die medizinischen Akten der Patienten möglicherweise „frisiert“ worden seien. Sie würde gerne genauer prüfen, inwiefern diese nachträglich verändert werden können. Laut Verteidigung sind die medizinischen Akten authentisch, die Zweifel der Staatsanwältin ergeben sich aus den unterschiedlichen Filtermethoden, um die Akten in unterschiedlichen Versionen darzustellen.
Auch wenn viele dieser Detailfragen durch eine mündliche Befragung des Zeugen kaum zu beantworten sind, nahm sich die Verteidigung viel Zeit, um Orte, Daten und medizinische Details der Untersuchung bei dem zunehmend irritierten Mann zu erfragen. Etliche Male wiederholte der Zeuge, dass er sich nun mal nicht erinnere. Zumindest was das Gedächtnisprotokoll betrifft, hätte vielleicht eine einfache technische Untersuchung des Dokuments (Erstellungsdatum, Versionsverlauf) Aufklärung bringen können, wurde aber nicht beantragt.
Auch die Befragung, warum das Dokument erst kurz vor dem Prozess vorgelegt wurde, lief ins Leere. Als die Verteidigung deshalb Opferanwältin Barbara Petersen befragen und dafür von der Schweigepflicht entbunden sehen wollte, kam es zu einem lauten Wortgefecht – der Zeuge hatte zunächst zugestimmt, dann zurückgerudert. Er würde lügen, schrie Verteidiger Johannes Eisenberg in den Saal, woraufhin der Vorsitzende Richter Rüdiger Kleingünther ebenfalls laut unterbrach: „Herr Eisenberg! Es ist jetzt genug! Diese Art und Weise, wie Sie hier Zeugen angehen, das ist nicht prozessordnungsgemäß.“
Eisenberg wurde während der bisherigen Prozesstage bereits mehrfach dazu aufgefordert, die Zeugen ausreden zu lassen und ihnen ausreichend Zeit zum Antworten einzuräumen.
Im weiteren Verlauf der Befragung interessierten die Verteidigung vor allem die Kontakte mit weiteren mutmaßlich Betroffenen sowie zur Presse. Umgekehrt zeigte die Befragung, was der Mann unternahm, um nach Unterstützung zu suchen. Er habe gewusst, so der Zeuge, dass er allein vor Gericht schlechte Chancen haben würde. Er habe zu zwei weiteren Nebenklägern Kontakt gehabt, sich aber mit ihnen nicht detailliert über die mutmaßlichen Missbrauchsvorwürfe unterhalten. Es ist ein relevanter Aspekt: Zeugen kann der gegenseitige Kontakt vor Gericht nachteilig ausgelegt werden, weil es gegenseitige Beeinflussung bedeuten könnte. Auch viele Jahre nach seiner Strafanzeige suchte der Mann noch weiter nach möglichen Betroffenen. Der Weg, die Vorwürfe auch über die Medien öffentlich zu machen, sei für ihn nicht in Frage gekommen, er habe das Risiko gekannt. „Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, das ist eine total gefährliche Situation“, so der Mann.
2018 habe der Zeuge jedoch versucht, einen Text auf der Facebookseite des queeren Stadtmagazins Siegessäule zu platzieren. Über den Kontakt einer Person, an die er sich nicht erinnere, sei dann der Kontakt zum Chefredakteur Jan Noll entstanden, sie hätten Emails geschrieben und sich vertraulich getroffen. In dem Gespräch hätten sie sich über die Schwierigkeiten des Falls ausgetauscht, die lange Verfahrensdauer etwa. Die Anklage der Staatsanwaltschaft lag zu diesem Zeitpunkt schon mehr als zwei Jahre zurück, der Prozessbeginn war nicht absehbar. Auch über die hohen medienrechtlichen Hürden hätten sie gesprochen, erinnert sich der Mann an das Gespräch.
Der Chefredakteur habe ihm dann eine anonyme Anzeige in dem Magazin vorgeschlagen, um nach weiteren mutmaßlich betroffenen Personen zu suchen. Die verfasste der Zeuge laut eigener Aussage selber, sie erschien in der Januarausgabe 2019 des Heftes, ohne den Arzt namentlich zu nennen. Über die Konsequenzen hatte BuzzFeed News berichtet: Laut der Geschäftsführerin des Magazins Siegessäule stand wenige Monate später das LKA mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss vor der Tür des Verlages.
Ansonsten verfehlte die anonyme und vage gehaltene Anzeige offenbar das Ziel des Zeugen: Niemand habe sich daraufhin gemeldet, „ein ziemlich verzweifelter Versuch“, denn es sei ja nicht transparent gewesen, wer dahinter gestanden habe.
Wer genau in welcher Form an dieser Anzeige beteiligt war, würde Verteidiger Johannes Eisenberg gerne genauer wissen. Er sagte, er wolle eine Beschlagnahmung der Emailkorrespondenz zwischen dem Journalisten und dem Opferzeugen. Bis zum Ende des Verhandlungstages stellte er jedoch keinen entsprechenden Beweisantrag.
Auch zur weiteren Rolle der Medien bei der Recherche und Berichterstattung über die Vorwürfe konnte die Verteidigung an diesem Tag nicht viel mehr herausfinden. Ob er wisse, wie die Akten aus dem Verfahren an die Journalisten von BuzzFeed gekommen seien, wollte eine weitere Verteidigerin des angeklagten HIV-Arztes wissen. Seines Wissens nach wurden keine Akten aus dem Verfahren an Journalisten weitergegeben, erwiderte der Zeuge.
Für den Strafprozess wurden elf weitere Verhandlungstermine anberaumt. Der Urteilstermin ist aktuell für den 23. September 2021 geplant.
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