„Und dann hat es in mir so dermaßen gebrodelt“, sagt sie heute. „Warum ausgerechnet ich? Wie kommt es jetzt dazu, dass es jetzt so deutlich wird, und so intensiv?“
Ganserer spricht eindringlich von sich selbst, nachvollziehbar, zitierfähig. Feste Stimme, dröhnendes R. Stoisch beantwortet sie die vielen Fragen der Reporterin nach intimen Lebenssituationen.
Ihrem Stimmtraining: „Da muss man Winseln wie ein Hund.“
Ihrer Ehe: „Ich hatte wahnsinnige Angst, das meiner Frau zu erzählen.“
Ihren Unsicherheiten: „Schrecklich finde ich es momentan, wenn ich irgendwo meine Stimme in den Videos oder im Radio höre, weil ich einfach noch so sehr, sehr männlich klinge.“
Wenn sie mit Vertrauten redet, schlägt ihr Bayerischer Dialekt stärker durch, dann sagt sie Is ja eh scho wurscht oder Eben des hob i gmoant. In Interviews spricht sie kontrollierter, lacht und flucht selten. Wenn sie über ihre politische Arbeit spricht, redet sie wie ein Wasserfall. Ein vierminütiger Vortrag über das bayerische Besoldungsgesetz, Förderung der Dienstfahrräder durch Entgeltumwandlung, keine Chance, sie zu unterbrechen. Unliebsame Fragen beantwortet sie in einem Satz. Welche Farbe das Kleid ihrer Frau hatte, das sie anzog? Ganserer stöhnt genervt auf. „Die Farbe spielt doch überhaupt keine Rolle, es war einfach ein saugutes Erlebnis.“
Ist es okay, eine Politikerin nach ihrer Hormontherapie zu fragen, nach ihrem Körper? Gibt es dafür einen Freibrief, weil Ganserer trans ist? Wo endet das öffentliche Interesse, wo beginnt der Voyeurismus? Ganserer hat Grenzen. Ob sie geschlechtsangleichende Operationen plant, geht niemanden etwas an. Ihre beiden Söhne, neun und vierzehn, sollen rausgehalten werden, „keine Homestory.“ Sie spricht lieber über Verkehrspolitik als über ihr Privatleben, aber sie weiß, dass es die wirksamste Methode ist, um Menschen zum Zuhören zu bringen. „Mir geht es nicht um die persönliche Story, sondern ich will zeigen: Wo stoßen trans Personen an ihre Grenzen, und was ist politisch zu tun“, sagt sie.
Ganserer wird 1977 in der Kleinstadt Zwiesel geboren, umgeben vom Bayerischen Wald unweit der tschechischen Grenze. Die Mutter arbeitet in einer Glasfabrik am Fließband, der Vater karrt mit einem Pferdewagen Holz aus dem Wald, wo die Bäume so dicht stehen, dass die LKWs nicht durchkommen. In der Schule fällt Ganserer durch eine Lese-Rechtschreibschwäche auf, später wird sie Jahrgangsbeste. Die Menschen in ihrer Stadt sind konservativ, Normabweichungen werden abgestraft. „Als trans Jugendliche in den 80er Jahren im Bayerischen Wald, das hätte ich nicht überlebt. Dann wäre ich heute nicht mehr hier.“ Ihre Schwester geht auf eine Sonderschule, weil sie eine Behinderung hat, Ganserer kennt Hänseleien und Spott.
Nach der neunten Klasse verlässt sie die Hauptschule und macht eine Ausbildung zur Waldarbeiterin. Die Holzernte ist ein körperlich anstrengender Beruf, die jährlichen Todesfälle sind vergleichsweise hoch. „Ich habe gedacht ich hab mehr auf dem Kasten“, sagt Ganserer. Sie holt das Fachabitur nach, jobbt einige Zeit im Landschaftsgartenbau und studiert dann Forstwirtschaft an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf. Sie interessiert sich für Naturschutz, kann sich vorstellen, in der Umweltbildung mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Eine Karriere als verbeamtete Forstwirtin fällt aus: Ganserer will nicht den Jagdschein machen, der dafür vorgeschrieben ist, und baut stattdessen die Grüne Jugend in ihrer Region mit auf.
2003 ist Landtagswahl, Edmund Stoiber holt für die CSU 60 Prozent und kündigt an, die Forstwirtschaft zu reformieren. Ein Drittel des Bundeslandes ist damals mit Wald besiedelt, ein Teil davon gehört dem Staat. Stoiber will Geld sparen, Reformgegner:innen sind gegen die Privatisierungsvorschläge.
Ganserer will den Wald schützen und engagiert sich gegen die Reform, geht für ein Praktikum bei den Grünen in den Landtag und wird für viele Jahre Mitarbeiterin im Büro von Christian Magerl, bei dem Parteigrößen wie Anton Hofreiter arbeiteten. Sie heiratet, bekommt zwei Söhne, wird 2013 Landtagsabgeordnete.
In diesen Jahren wird Ganserer immer sicherer, dass sie eine Frau ist, aber sie fürchtet sich: Was bedeutet es für ihre Kinder, für ihre Frau? Wie würden die politischen Mitbewerber damit umgehen, wie die Öffentlichkeit? Wäre es das Ende Ihrer politischen Karriere?
Ganserer vertraut sich kaum jemanden an. Sie hat panische Angst, dass jemand anderes sie outet, plötzlich BILD-Reporter:innen vor ihrer Tür stehen. Zu den Christopher Street Days geht sie als Parteimitglied der Grünen selbstverständlich, tritt aber als heterosexueller Mann auf und kommt am Boden zerstört zurück. Ein anderes Mal sieht sie einen guten Freund in Nürnberg an einem S-Bahn-Gleis. Tessa trägt Frauenkleidung, will gerade zu einem Treffen mit einer anderen trans Person, „mir ist fast das Herz stehen geblieben“, erinnert sie sich. Zitternd geht sie an ihm vorbei, den Bahnsteig entlang zum anderen Ausgang hinunter. „Es war einfach klar: Ich werde zu keiner inneren emotionalen Ruhe finden, wenn ich nicht auch als Frau leben kann. Ich bin Tessa Ganserer und ich möchte am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.“
Ganserers Frau steht in der Zeit fest hinter ihr. Keine Selbstverständlichkeit, nicht selten zerbrechen Ehen an den Herausforderungen einer Transition. Ines Eichmüller sitzt in einem Café in Nürnberg, hat sich eine heiße Schokolade bestellt und ein blaues Kleid angezogen, für einen Fototermin am Nachmittag. Sie redet schnell, lächelt viel und macht Pausen, um ihre Worte abzuwägen. Ihre Magisterarbeit schrieb sie in Politikwissenschaften zum Thema „Spannungsverhältnis von Frauenpolitik zu Geschlechterpolitik bei Bündnis 90 Die Grünen“.
Eichmüller erinnert sich noch gut an den Tag als sie zum ersten Mal mit ihrer Frau in ein Taxi gestiegen ist, um zu einem Selbsthilfe-Stammtisch zu fahren. Tessa trägt Rouge und Lippenstift, die Öffentlichkeit kennt sie zu dem Zeitpunkt noch als Mann. Beide sind angespannt, haben alles ganz genau besprochen. Tessa setzt sich auf die Rückbank hinten links, damit der Taxifahrer sie nicht beobachten kann, Eichmüller übernimmt das Gespräch. Was für sie eine Selbstverständlichkeit ist, ein Kleid und ein paar High-Heels, ist für ihre Frau ein Risiko. „Wie viel Angst das machen kann und wie viel Mut das erfordert. Da ist mir bewusst geworden, dass für die Privilegierten ihre Privilegierung oft unsichtbar ist.“ Ganserer merkt, wie sehr sie die Wahrnehmung von Außen braucht. Danach ist klar, es gibt keinen Weg für sie ohne die Wahrheit.
Ihre Frau räumt in der Zeit hinter den Kulissen auf, arbeitet weniger Stunden, spricht mit Familienmitgliedern, blockiert Hater auf Facebook. „Ordnung halten und schauen, dass der Laden läuft“, sagt sie. Sie bestellt sich noch einen Tee, ihr Handy klingelt. „Hallo? Englisch ist um 14 Uhr. Wo bist du?“ Sie stöhnt laut auf. Der ältere Sohn hat die Nachhilfestunde vergessen. „Ok. Es ist wie jeden Freitag. Ja. Hast du Geld dabei?“ Puuh murmelt sie und schickt eine Reihe SMS los.
2018 steht die Landtagswahl in Bayern an. Der Wahlkampf ist die Hölle. Immer öfter braucht Ganserer eine Auszeit. Die Wohnung ihrer Schwiegermutter wird ihr Zufluchtsort, dort hat sie ein Zimmer und kann sie selbst sein. Die Wochenenden gehen für ein Versteckspiel drauf, statt für Mandatsarbeit. Samstagnachts sitzt sie weinend vor ihrer Kleidung, weil sie am nächsten Tag einen Termin hat, bei dem sie wieder die falsche Rolle als Mann spielen wird. Immer wieder muss sie Termine absagen.
„Ich habe mir jeden Tag überlegt, wann mache ich den Schritt, halte ich das überhaupt noch bis zur Landtagswahl aus?“, sagt Ganserer. Am liebsten will sie sich sofort outen, aber sie hat Angst. „Was mache ich, wenn mich das schon unter Umständen das Mandat kostet? Und falls ich nicht gewählt werden würde, hätte ich mir den ganzen Spießrutenlauf in der Öffentlichkeit antun müssen?“
Ganserer entscheidet abzuwarten. Die Tage werden zur Qual. Herr Ganserer wird wiedergewählt.
Danach wartet Ganserer mehrere Monate auf einen freien Termin bei einem Psychiater, erhält dann endlich die Diagnose: ICD-10 F64.0, „Störung der Geschlechtsidentität“ und „Transsexualismus“. Mein eigentlicher Geburtstag, sagt sie.
Im November gibt sie einer Journalistin, der sie vertraut, für die Süddeutschen Zeitung ein Exklusivinterview. „Ich bin Transgender” ist in der Zeitung zu lesen. Wenige Wochen später erscheint erneut ein Bericht, darunter ein Foto von Tessa im Landtag, lange blonde Haare, weiße Bluse, grauer Nagellack. Sie wird nun nur noch als Frau auftreten, hält eine Pressekonferenz ab, stellt ihre queerpolitische Agenda vor. Medien berichten von Argentinien bis Indien über die erste trans Landtagsabgeordnete Deutschlands. Ein großer, ein mutiger Schritt.
„Das habe ich mindestens tausendmal gehört“, sagt sie. „Ich fand mich da überhaupt nicht mutig. Ich war am Ende meiner Kräfte. Ich wollte einfach weiterleben.” Sie wirkt wütend, vielleicht auf sich selbst und zieht fest an ihrer Zigarette. „Mir war es egal, ob ich das Mandat verliere oder nicht. Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten.“
Dabei liebt sie die Politik. „Es bedeutet mir“, sagt sie, „un-heim-lich viel“. Jeder Tag ist anders, die Dinge laufen nicht immer wie geplant. Ein intensives Leben, sagt Ganserer. Hier kann sie die größtmöglichen Veränderungen bewirken und es liegt ihr, vor vielen Leuten zu sprechen.
An einem sonnigen, aber kühlen Abend Mitte Mai 2019 läuft Tessa Ganserer etwas wackelig über das Regierungsgelände, das Kopfsteinpflaster verträgt sich nicht gut mit den schwarzen Pumps. Sie hat sich zurecht gemacht, Ohrringe, Halskette, ein Strickjäckchen mit schwarzer Spitze. Ein Tourist mit weißen Haaren zieht die Augenbrauen hoch, eine Frau sagt im Vorbeigehen: Tolles Kleid. Danke, sagt Ganserer. Gleich beginnt der große Regenbogenabend ihrer Partei im Bundestag.
„Ich weiß ja nicht, sind die Leute jetzt entsetzt oder sehen sie mich positiv?“, sagt sie. Anstrengend könne das sein, diese Blicke immer zu spüren. Dann denkt sie einen Moment nach, sucht nach der richtigen Erklärung. „Ich trage das trans Sein immer sichtbar bei mir. Das heißt auch, ich werde zuerst als trans Frau gelesen, und erst danach als Frau.“
Im Schatten des Paul-Löbe-Hauses, ein mächtiger Betonbau mitten im Regierungsviertel, hat sich eine lange Schlange gebildet, Einlasskontrolle. Auf Ganserer Ausweis ist ein Mann mit kurzen Haaren zu sehen, schon etwas kahl, eine Brille. Das Foto hat nur sehr wenig mit der Person gemeinsam, die den Ausweis in der Hand hält. Ganserer dreht den Ausweis nach vorne, nach hinten, wieder nach vorne. Passing nennen trans Personen das Ziel, möglichst gut in ihrer Geschlechtsidentität erkannt zu werden.
Ganserer wird für immer Haarersatz tragen müssen, der Hohn und Spott als Frau mit Halbglatze undenkbar. Eine Last, die manchmal „zentnerschwer“ wiegt, sagt sie. Aber sie will mit erhobenem Kopf durchs Leben gehen. Die kommenden Monate wird Ganserer an sich arbeiten, um Kompromisse und Frieden zu schließen zwischen ihrem inneren Empfinden und dem äußeren Erscheinungsbild.
An diesem Abend wird Ganserer zwischen Regenbogenplakaten im Bundestag ein Glas Sekt trinken. Sie ist eine Erscheinung, eine große Frau, die in ihrem leuchtend blauen Kleid langsam durch die Menschenmenge schreitet. Es wird Born This Way von Lady Gaga laufen, viele Menschen werden zu ihr kommen, um sich ihr vorzustellen. Aber hier, an der Einlasskontrolle, weiß sie nicht, ob der Mann hinter der dicken Glasscheibe das Dokument akzeptieren wird.
Demütigend, fühlt sich das an, sagt sie, dass sie vielleicht diesem wildfremden Menschen und vor unbeteiligten Dritten wieder einmal ihr Trans-Sein wird erklären müssen. Für alle Fälle hat sie einen sogenannten Ergänzungsausweis dabei, den die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität dgti e.V in Deutschland rund 200 Menschen im Monat ausstellt. Eine einfache Plastikkarte, 19,90 Euro. „Wenn die hier drin ihren Job richtig machen würden, bräuchte ich das nicht“, sagt Ganserer.
Ein eisiger Nachmittag Ende Januar 2019, in Südbayern schneiden Schneemassen ganze Ortschaften von der Außenwelt ab. Ilse Aigner, die Präsidentin der Bayerischen Landtags, lobt die Einsatzkräfte, betrauert die tödlich Verunglückten, beglückwünscht Kollegen, die Geburtstag hatten.
„Gestatten Sie mir an dieser Stelle noch eine kurze Information für das Hohe Haus“, sagt sie dann. „Ganserer hat mir in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt, dass sie ab sofort als Frau in Erscheinung treten möchte.“ Fortan solle Frau Ganserer bitte dementsprechend angesprochen und in Emails adressiert werden – ein Weg, der Frau Ganserers Würde und ihr Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit achte. „Ich darf Sie alle herzlich [...] bitten, sich dieser Verantwortung bewusst zu sein, und zwar sowohl in der persönlichen Kommunikation als auch darüber hinaus, insbesondere in den sozialen Medien“, sagt Aigner. „Persönliche Diffamierungen von Kolleginnen und Kollegen haben in diesem Hohen Haus keinen Platz.“
Applaus. Ganserer rollt ein wenig mit ihrem Stuhl vor und zurück, die vielen Kameras im Saal schwenken auf sie. Sie verzieht keine Miene und hört aufmerksam zu, die Rede der Landtagspräsidentin ist abgesprochen, die Unterstützung bedeutet ihr viel. Dann folgt die Tagesordnung. Wer an diesem Tag anderer Meinung ist, bleibt still. Nach der Sitzung folgen die Kameras Ganserer auf den Flur. Sie versteht: Dem öffentlichen Interesse an ihrer Person wird sie sich künftig nicht mehr entziehen können.
Zwei Wochen zuvor war Tessa noch in Herrenklamotten in Aigners Büro gekommen. Zusammen mit dem Landtagsdirektor sitzen sie am großen Holztisch in einem großzügigen Altbau, Freischwinger-Sessel aus schwarzem Leder, ein Holz-Kreuz an der Wand. Aigner hat den Artikel in der Süddeutschen Zeitung gelesen, sichert Ganserer Unterstützung zu. Ganserer fühlt sich sicher, erzählt von ihrem geheimen Doppelleben. Für Aigner ist es das erste Mal, dass sie eine trans Geschichte so direkt erzählt bekommt. Sie ist berührt und beeindruckt, „was ein Mensch da durchmacht in so einer Phase“. Rückblickend sei sie „hocherfreut“ dass es keine abfälligen Kommentare im Landtag gegeben habe, zumindest nicht öffentlich. Zwei Kolleginnen kommen zu ihr, fragen danach, wie das jetzt mit den Toiletten sei. „Sie ist jetzt eine Frau, also geht sie auch auf die Frauentoilette“, habe sie geantwortet. Im Handbuch des Landtags steht fortan hinter dem alten Namen Tessa, in Klammern.
Ganserers Wikipedia-Seite verschwindet, sie lässt ihre Webseite neu aufsetzen, wechselt ihre Profilbilder auf Facebook, den Geschlechtseintrag auf Xing, ihren Ausweis für die öffentlichen Verkehrsmittel. Ein großer Teil ihrer politischen Arbeit ist nicht mehr im Netz dokumentiert. Wer in dieser Zeit eine Email an Herrn Ganserer schickt, erhält einen Auto-Reply:
Sehr geehrte Damen und Herren,
wie Sie vielleicht den Medien entnommen haben, lebe ich nun in meiner Geschlechtsidentität. Das heißt, ich empfinde mich als Frau. Ich möchte auch so anerkannt und akzeptiert werden. Für einen respektvollen Umgang bitte ich Sie, mich in Zukunft mit meinem weiblichen Vornamen und dem entsprechenden Pronomen anzusprechen
.Ich weiß, dass dies für viele Menschen ungewohnt ist; ich habe auch 10 Jahre benötigt, um mich so zu akzeptieren wie ich bin.
In den Wochen danach stellt Ganserer auch ihre politische Agenda um. Sie gibt den Sitz im Wirtschaftsausschuss und ihr Amt als forstpolitische Sprecherin auf, ist nun queerpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Die Arbeit ist mühsam, Ganserer schreibt Anträge, die CSU lehnt sie regelmäßig mehrheitlich ab. Bayern hat keine Ansprechperson für LGBT*s bei der Polizei und keinen Landesaktionsplan für die Rechte und Unterstützung von Lesben, Schwulen, Bi- und Intersexuellen, trans Personen – als einziges Bundesland in Deutschland.
Im April 2019 hält Ganserer ihre erste Rede vor dem Landtag erkennbar als Tessa, spricht sich für einen solchen Aktionsplan aus. „Die Ehe für alle reicht nicht“, sagt sie.
Die Geburtsurkunden ihrer Kinder etwa kann sie überhaupt nicht korrigieren. Dort wird auch nach ihrer rechtlichen Anerkennung ihr alter Name stehen, Frau Ganserer ist offiziell der Vater, eine einfache Urlaubsreise kann zum Problem werden. Vor Jahren klagte ein trans Vater dagegen, scheiterte 2017 vor dem Bundesgerichtshof und ein Jahr später vor dem Bundesverfassungsgericht.
Es ist eine starke Rede, Tessa Ganserer listet politische Argumente im Dreißigsekundentakt auf. Sie lässt den Blick über die Reihen der Parlamentarier schweifen. „Nicht zuletzt“, sagt sie, „die Beleidigungen und Anfeindungen, die gegenüber meiner Person in den sozialen Medien stattfinden, zeigen, dass Homophobie und Transphobie leider Gottes in diesem Land noch weit verbreitet sind.“ Im Koalitionsvertrag kämen queere Menschen mit keiner einzigen Silbe vor. „Ich sage Ihnen aber“, sagt Ganserer und lehnt sich auf ihrem Rednerpult nach vorne, „dieses unser Bayern ist wesentlich bunter und vielfältiger, als das Papier, auf den Sie Ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben.“
Der Antrag wird abgelehnt.
Zum gleichen Zeitpunkt steht ein Post des Landtagskollegen Ralf Stadler von der AfD auf dessen Facebook-Pinnwand:
Bevor die AfD-Abgeordneten ihre Büros bekommen, bekommt ”das” Ganserer wahrscheinlich […] zuvor noch ein eigenes geschlechtsneutrales Klo.
Grimassen-Smiley.
Darunter ist ein Artikel über Ganserer verlinkt, auf dem Foto blickt sie etwas scheu in die Kamera, eines der ersten Bilder von ihr in Frauenkleidung. Stadler kommentiert: „Kann ein “Mitglied“ im bayerischen Landtag die Bürger ordentlich vertreten, wenn er selbst nicht mal weiß ob er Manderl oder Weiberl ist?“
Ganserer ist harte Auseinandersetzungen aus dem Landtag gewohnt. Als hartnäckig und durchsetzungsfähig beschreiben sie ihre Kolleg:innen. „Dass jemand mich angreift, weil er meine inhaltlichen Meinung nicht teilt, ok“, sagt Ganserer. „Aber wer sich so äußert, dem spreche ich die moralische Eignung für so ein Mandat schlichtweg ab.“ Sie meldete den Fall beim Landtagsamt, Konsequenzen erfährt Stadler dafür nicht. Heute ist der Post nicht mehr online, warum, beantwortet der Abgeordnete auf Anfrage nicht.
Die Befürchtungen, welche Ganserer vor ihrem politischen Coming-out über Jahre gequält hatten, treten nicht ein. Trotzdem lebt sie mit Hass und Ignoranz gegen Ihre Person, die neu sind. Regelmäßig erhält sie Anfeindungen über Social Media und per Email in denen Dinge stehen wie: „mach bitte suizid, du scheißtranse!” Etliche davon meldet sie jedes Jahr bei der Polizei. „Wenn jemand um Strafanzeige bettelt, dann kann er sie gerne haben“, sagt sie. Ganserer sucht einen professionellen Umgang mit dem Hass und sie will, dass die Fälle in der Kriminalstatistik auftauchen. Das LKA Bayern erfasste im vergangenen Jahr 37 Taten von Hassgewalt gegen sexuelle Minderheiten und queere Menschen. Mindestens die Hälfte dürften von Ganserer stammen.
In den Monaten nach dem Regenbogenempfang wird sie zur Vorzeige-Politikerin der queeren Communities. Sie spricht auf der ersten Trans* Pride Deutschlands in Stuttgart. Sie läuft in vorderster Reihe beim Dyke March in München mit, einer Demonstration für Lesben, lächelt mit ihrer Frau auf einem Schnappschuss in die Kamera. Beim Trans* March bindet sie sich eine große Trans-Fahne um die Schultern, hellblau rosa weiß, wie die Farben auf ihrer neuen Webseite. Neben ihr läuft Anastasia Biefang, die sich 2017 als erste transgeschlechtliche Bataillonskommandeurin der deutschen Streitkräfte outete.
Persönlich ist es eine mühsame Zeit.
Seit Jahren wird über eine Reform des 40 Jahre alten Transsexuellengesetzes diskutiert, eine Gesetzesruine aus veralteten Regelungen. Bis 2011 etwa mussten sich trans Personen sterilisieren lassen, um ihren Personenstand zu ändern. Hätte Ganserer damals entschieden, sich zu outen, es hätte ein Leben ohne eigene Kinder bedeutet. Für sie unvorstellbar.
Bis heute gilt: Will eine trans Person ihren Personenstand ändern, muss sie zwei psychologische Gutachten bezahlen und vorlegen, dann entscheidet ein Amtsgericht. Eine komplizierte Formalie, denn die Gerichte schauen auf die Gutachten, und die entsprechen in 99 Prozent der Fälle dem, was trans Personen ohnehin über sich selber angeben. Die geschätzten Verfahrenskosten für die Behörden liegen insgesamt bei jährlich einer Million Euro, die Betroffenen tragen Kosten bis zu 3000 Euro.
Laut Koalitionsvertrag sollte das Gesetz reformiert werden, doch vor den Wahlen im September ist nicht mehr damit zu rechnen, genau wie schon einmal in der Legislatur zuvor. Als Katarina Barley 2019 versuchte, ein neues Transsexuellengesetz auf den Weg zu bringen, scheitert sie. Ihr Gesetzentwurf enthielt viele Kompromisse, Verbände und Betroffene wehrten sich dagegen. Barley ging kurz danach als Vizepräsidentin nach Brüssel, die angefangene Reform liegt seitdem brach.
Auch ein Versuch der Grünen, Linken und FDP für ein neues Gesetz im Mai diesen Jahres scheiterte krachend. Die drei Oppositionsparteien wollen das Gesetz abschaffen, stattdessen ein sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz: Trans Personen sollen Vornamen und Geschlecht einfach beim Standesamt ändern können, ohne psychologische Begutachtung, ohne Pathologisierung. Ähnliche Gesetze gibt es bereits in neun Europäischen Ländern, darunter Dänemark und Portugal. Nicht einmal ein Viertel der Abgeordneten stimmte dafür. Die Union will weiterhin eine medizinische Beratung, die SPD kritisierte, die Entwürfe seien zu umfangreich und stimmte nicht gegen ihren Koalitionspartner. Trans Rechte sind kein Thema, mit dem man Wahlen gewinnen kann.
Für Ganserer ist es von Anfang an ausgeschlossen, den vorgeschriebenen Weg über das Transsexuellengesetzes zu gehen. „Ich werde mich nicht vor einen Richter stellen, und auch nicht mehrere tausend Euro dafür bezahlen, damit mich der Staat in meinem Geschlecht akzeptiert.“
München, Oktober 2019: Tessa Ganserer sitzt in ihrem Büro des Bayerischen Landtags, wippt mit dem Fuß und sortiert einen großen Stapel Post. Vor der Tür hängt ein Jagdgeweih, auf dem Sofa liegt ein Plüscheinhorn und im Bad steht ein Perückenständer aus weißem Styropor. Das Diktiergerät läuft, keine Flüche mehr, scherzt ihr langjähriger Mitarbeiter Martin Schloßbauer und ruft laut aus: Himmelherrschaftszeiten! Er zeigt auf ein paar vertrocknete Rosen, die dort an der Wand hängen: „Das ist der Blumenstrauß, oder Tessa?“
Ganserer trägt Converse-Turnschuhe, ein beschriftetes T-Shirt über dem Hoodie, darauf die Definition von Feminismus und hat die Haare mit einer Klammer zurückgesteckt. Sie vertraut Schloßbauer, sie arbeiten seit 14 Jahren zusammen. Er war einer der ersten Kollegen, den sie vor rund einem Jahr einweihte. „Sie hat gesagt: Jetzt schaut euch mal an, was auf euch zukommt“, sagt Schloßbauer und dann habe sie ihm ein Foto von sich in Frauenkleidung gezeigt. Dann war erst mal Schweigen. „Bis ich gesagt hab: Das bist ja du!“
Ein Coming-out ist kein einmaliger Termin, den man erledigen kann wie einen Besuch beim Einwohnermeldeamt. Es ist ein Prozess. „Wie wenn ein Küken aus dem Ei schlüpft, aber nicht nur eine, sondern zehn Eierschalen zu durchbrechen hat“, sagt Ganserer. Immer wieder muss sie sich neu erklären. Erst vor ihrer Familie. Dann ihren Mitarbeitern. Dann der Fraktion. Dann der Presse. Dann entfernteren Verwandten. Dann einem Psychiater. Dann der Landtagspräsidentin. Im November, einige Wochen vor dem Gespräch mit Ilse Aigner, tritt Ganserer vor 38 Kolleg:innen ihrer Partei. An dem Tag werden die stellvertretenden Beisitzerinnen im Fraktionsvorstand gewählt, bekommen Blumensträuße. „Den hast du eigentlich heute verdient“, habe ihr eine der Kolleginnen gesagt und den Strauß in die Hand gedrückt, der jetzt an einem Plastikbändchen in ihrem Büro baumelt.
An diesem Abend, sagt Schloßbauer, sorgte er sich, saß noch lange im Büro, bis seine Chefin zurückkam. „Und dann hat sie mir den Strauß entgegengehalten und hat gesagt: Abgeordnete der Herzen. Da war ich so erleichtert.“
Eigentlich läuft es gut für Ganserer, im Landtag. Die Kolleg:innen schätzen sie, weil sie fachlich versiert ist und hartnäckig. Doch persönlich hat sie das Gefühl, nicht richtig voranzukommen.
Den bürokratische Aufwand einer Transperson kann man sich vorstellen, als hätte man sein Portemonnaie mit sämtlichen Unterlagen und Ausweisen darin verloren. Perso, Führerschein, Melderegistereintrag, Geburtsurkunde, Reisepass, Bankkonto, Krankenversicherung, Krankenzusatzversicherung, Verkehrsgesellschaft, Bahncard, Bibliothek, Fitnessclub, Schrebergartenvereinsmitgliedschaft. Aber bei dem Versuch, alles neu zu beantragen, glaubt einem niemand, dass es sich um einen selber handelt – oder dass man den Ausweis wirklich braucht.
Ganserer vernetzt sich mit anderen trans Personen, knüpft Freundschaften, bekommt wichtige Infos. Einen Musterbrief für eine Versicherungskarte. Eine Psychologin, die auf Genderdysphorie spezialisiert ist. Fast jede Woche schreiben Menschen aus der trans Community Ganserer Nachrichten, bitten um Hilfe. Ihr alter Name ist mittlerweile so gut wie verschwunden, nur auf den Anwesenheitslisten im Landtag streicht sie weiterhin ihren alten, männlichen Vorname durch, immer wieder. Sie geht regelmäßig zur Logopädie und trainiert, damit ihre Stimme heller und zarter klingt. Kopfresonanz statt Brustresonanz. Und sie muss eine Psychotherapie machen, damit die Krankenkasse ihr die geschlechtsangleichenden Maßnahmen bezahlt, so schreibt es die Kasse vor.
In einem Brief listet ihr die Krankenkasse ein dutzend Nachweise auf, die sie vorlegen muss: Einen psychiatrisch-psychotherapeutischen Befund. Eine biographische Anamnese. Hinweise zur Sexualität. Ein urologischer beziehungsweise gynäkologischer Befundbericht über den Genitalstatus. Tagsüber sitzt Ganserer im Landtag und stimmt über bessere Sozialgesetze zur pflegerischen Versorgung ab. Abends verzweifelt sie über Briefen, laut denen ihr Gutachter in die Hose schauen sollen. Entwürdigend, sagt Ganserer.
Die Krankenkassen schreiben sogenannte Alltagstests vor – konkret bedeutet das, dass trans Personen ein Jahr in ihrer Geschlechtsidentität leben müssen. Ein Jahr als Frau mit Bart, ein Jahr als Mann mit Brüsten, so wollen die Kassen prüfen, ob es den trans Personen ernst ist, mit ihrer Geschlechtsidentität. Gutachter beurteilen, welche Körbchengröße angemessen ist, stellen Fragen, wie man mastubiert.
Für Ganserer ist das Schikane. Sie weiß, wer sie ist und sie braucht Hilfe, um als dieser Mensch leben zu können, erlebt aber das Gegenteil. Ständig muss sie beweisen, belegen, sich rechtfertigen. „Was mich krank macht, ist der Umgang der Krankenkasse.“ Ein Teufelskreis. Aus ihrer Sicht verstoßen die Krankenkassen gegen ihren gesetzlichen Auftrag.
Auch wenn die Therapiestunden etwas Entlastung schaffen, unterm Strich bleibt es ein Pflichtprogramm. „Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich nicht hingehen.“ Nachdem der Poststapel im Büro abgearbeitet ist, bestellt sie pünktlich um 12.30 eine Kürbissuppe im Café Wiener Platz. Der Tisch ist klein, das Café rappelvoll und der Soundpegel so laut, dass Ganserer kaum zu verstehen ist. Sie redet unbeirrt weiter, fast wird die Suppe kalt. Dann steigt sie in die Straßenbahn und fährt zur Therapie.
Ein weißer Neubau in einer durchschnittlichen Reihenhaussiedlung östlich des Münchner Schlossparks, ein kleines Stück gepflegter Rasen vor der Tür. Im Souterrain liegt die Praxis von Dr. Dorette Poland. Etwa alle vier Wochen kommt Tessa Ganserer hier her.
Dr. Poland ist eine kleine Frau mit dicken Brillengläsern und einer sehr sanften Stimme. Sie sitzt neben einem Sekretär aus Vollholz, darauf ein leuchtender Globus. Es ist dunkel und kühl, Ganserer lässt ihren Kapuzenpulli an und schlägt sie Beine übereinander. Was bringt diese Form der Pflicht-Therapie? „Man kann Menschen nicht von ihrer Geschlechtsidentität heilen”, sagt Poland. „Und wenn man es tut, verstößt man gegen ihre Menschenwürde.“ Das Ziel einer Therapie sei normalerweise die Konfliktaufklösung. „Transsexualität oder Transidentität ist aber kein Konflikt, sondern eine Tatsache.“ Was sie also behandelt, ist der krankheitswertige Leidensdruck, weil das innere Fühlen als Frau und die äußeren Erscheinung als Mann nicht zusammenpassen. Und weil die Umwelt das Leben der trans Personen erschwert, statt erleichtert. Die Folgen: Depressionen, multiple Ängste, psychosomatische Erkrankungen, Suizidgedanken.
Poland wird wütend, wenn sie über die Vorgaben der Kassen und den Medizinischen Dienst spricht. „Das sind Willkürmaßnahmen“, sagt sie. „Das schreiben Sie sich mal auf.“ Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Mitglied im Qualitätszirkel für Transsexualität München, der sich seit Jahren für die medizinische Versorgung von trans Personen einsetzt. Sie behandelte über die Jahrzehnte hunderte trans Personen, kennt ihre Ohnmachtsgefühle, die Belastung durch die vielen Vorgaben und Überprüfungen.
Seit wenigen Wochen gibt es neue Leitlinien zur Gesundheitsversorgung von trans Personen, veröffentlicht vom GKV-Spitzenverband, die Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Sofort gab es Kritik von Fachverbänden, sogar von der Bundespsychotherapeutenkammer: Dass die Psychotherapie weiterhin vorgeschrieben wird, auch die Alltagstests weiter verlangt werden, entspreche nicht den aktuellen Leitlinien.
Letztlich entscheidet der Medizinische Dienst (MDK), ob Maßnahmen für trans Personen bezahlt werden. Eine Bartepilation, Brustaufbau, Brustentfernung, Stimmband-Operationen, Kehlkopfverkleinerung, Genitaloperationen. „Rund jeder zweite Antrag wird vom MDK erst einmal abgelehnt“, sagt Mari Günther, Referentin vom Bundesverband trans*, die sich dort mit dem Thema Gesundheit befasst. Ein Lotteriespiel. Der MDK Bayern schreibt, entsprechende Zahlen würden nicht ermittelt.
Die Kosten für die verschiedenen Maßnahmen wachsen schnell zu insgesamt fünfstelligen Summen, nichts, was von einem durchschnittlichen Einkommen privat bezahlbar wäre. Zudem operieren viele Ärzt:innen nur, wenn trans Personen ihre Gutachten oder die Gerichtsbeschlüsse vorlegen und die Kassen die Kosten übernehmen. Für Menschen mit viel Geld ist es einfacher, für die Operationen nach Thailand zu fliegen, als in Deutschland die Antragsschlacht durchzustehen. Die Transitionen ziehen sich so oft über Jahre. Am Ende bleiben trans Personen trotzdem oft auf Kosten von mehreren tausend Euro sitzen, weil sie die mühsamen und teils aussichtslosen Kämpfe mit den Kassen aufgeben.
Seit vielen Monaten streitet Ganserer mit ihrer Kasse, erfolglos. Sie will sofort mit der Bartepilation starten, die Kasse besteht auf einen mindestens einjährigen Alltagstest und der Begutachtung. Ganserer dreht an dem dicken Silberring an ihrem Finger, schaut auf den Boden, ihre Stimme klingt gereizt, wütend. „Und ich möchte nicht einfach klein beigeben und sagen: So dann zahl ich’s mir aus der eigenen Tasche, weil Frau Abgeordnete kann sich‘s ja leisten“. Auf Ganserer blickt die gesamte trans Community. „Aber ich kann bald nicht mehr, weil mich das einfach fertig macht.“ Dann bricht ihre Stimme, im Halbdunkel ist nur zu erahnen, dass sie weint. Stille im Raum. Ja, sagt Poland sehr sanft. Sie kann Anträge schreiben, Widerstandsfähigkeit und Selbstbewusstsein stärken, aber das Problem mit den Kassen kann sie nicht auflösen.
Für Außenstehende ist das Problem kaum ersichtlich. Ganserer aber ist jeden Tag damit beschäftigt. Jeden Morgen, sagt sie, begegnet sie einem scheinbar fremden Wesen im Spiegel, das mit dem eigenem Empfinden nichts zu tun hat. Um den Bartschatten zu verdecken, trägt sie Camouflage-Make-Up, eine glänzende Schicht, dick wie Theaterschminke. Sich umzuziehen, ohne die Bluse zu versauen, ist kaum möglich. Menschen umarmte sie schon vor der Corona-Pandemie nur noch vorsichtig. Ungeschminkt Besuch zu empfangen vermeidet sie, am Sonntagmorgen spontan Brötchen holen, undenkbar.
Wer sich vorstellen will, wie schwer das Leben einer Frau mit Bart sein kann, sei daran erinnert, dass sie noch vor nicht allzulanger Zeit auf Jahrmärkten in sogenannten Freak-Shows vorgeführt wurden, zur Belustigung des Volkes. Wer als Frau einen Bart trägt, wird im besten Fall nicht respektiert und im schlimmsten Fall öffentlich gedemütigt. Daran hat sich bis heute nichts geändert, es sei denn, man heißt Conchita Wurst.
Obwohl andere Methoden viel wirksamer sind, wird die Kasse Ganserer nur die Laserepilation genehmigen. Durch einen Ioden-Laser werden heiße Lichtstrahlen in die oberste Hautschicht geleitet, das Melanin leitet die Hitze an den Haarfollikel weiter, 65 Grad, schmerzhaft. Bis zu 15.000 Haare hat eine Person durchschnittlich im Gesicht, viele wachsen immer wieder nach. Ganserer muss eine der wenigen Ärzt:innen in der Region finden, welche die Behandlung durchführt. Die Kassen weigern sich zunehmend, die Kosten für ausgebildete Elektrologist:innen zu übernehmen, die auch wirksamere Methoden anwenden, wie die sogenannte Nadelepilation, bei der jeder Haarfollikel einzeln zerstört wird und auch blonde oder rote Haare entfernen kann. Die Behandlungen sind aufwendig, können länger als ein Jahr dauern, das Ergebnis ist oft nur mittelmäßig.
An diesem Nachmittag im Souterrain wirkt Ganserer verzweifelt, erschöpft und sehr sehr traurig.
Nach dem Gespräch mit Dr. Poland läuft sie zurück zur Straßenbahn, wirkt missmutig und grantig. Manche Menschen auf der Straße schauen sie kurz an und schnell wieder weg, manche zwei Mal, manche gar nicht. „Das meine ich“, sagt Ganserer. „Wenn ich eine Schulter zum Anlehnen brauche, ist eine Therapeutin nicht das Richtige.“
Ganserer hat ein starkes soziales Umfeld. Eine Frau und zwei Kinder, die sie lieben. Sie hat Freundschaften in der Community geschlossen, Verbündete gefunden. Einen Job, in dem sie erfolgreich ist. Aber sie ist erschöpft. Wie geht es Menschen, die weniger Rückhalt haben als Ganserer?
Immer wieder belegen Studien, wie hoch das Suizidrisiko bei LGBT*s ist. Besonders jugendliche trans Männer sind gefährdet. Jeder Zweite im Alter zwischen 11 und 19 Jahren versucht sich das Leben zu nehmen, ergab eine US-amerikanische Untersuchung unter 120.000 Jugendlichen der American Academy of Pediatrics (AAP).
Im Wald hört man Löwengebrüll. Es ist Herbst 2020, Ganserer stiefelt mit leichten Wanderschuhen und gelbem Minirock einen Hang des Nürnberger Reichswaldes hinauf, weiter unten liegt der Tierpark. Feuchter Kies knirscht unter den Füßen, kühle Luft, irgendwo läuten Glocken. Sie hat sich mit der Reporterin für einen Ausflugstag verabredet. Ganserer, Hauptnaturschutzwartin des lokalen Wandervereins, schlendert durch die Herbstlandschaft und referiert. Über das Wachstum der Moose, den Schwarmflug der Borkenkäfer, einen alten Eichenstumpf. „Grüß Gott“, ein Spaziergänger kommt vorbei, die Vögel zwitschern, sie schaut in die Baumwipfel, stolpert über eine Wurzel. „Manchmal ist es so, dass ich mir bei den Plenardebatten denke: Wäre ich nur draußen bei meinen Bäumen geblieben.“
Das Jahr war nicht einfach für Ganserer. Bayern war wochenlang im Corona-Lockdown, die CSD‘s fielen aus, Treffen mit anderen trans Personen kaum möglich. Wichtige Kraftquellen, die fehlten. Die Anfeindungen über Twitter und Facebook gingen weiter. Wegen der ausbleibenden Zusage für eine Bartepilation schaltete sie eine Anwältin ein. „Nobody ist perfect aber ich will an einen Punkt kommen, dass die äußerliche Erscheinung so passt“, sagt sie. Im Frühjahr brauchte sie eine Auszeit, meldete sich drei Wochen krank, ihre Frau sperrte den Laptop und das Telefon weg. Dann ein paar kleine Erfolge: Zumindest die Laserepilation wurde bewilligt, Ganserer kam gestärkt aus der Auszeit zurück. Die Grünen legten im Bundestag einen neuen Entwurf für ein neues Transsexuellengesetz auf den Tisch, meilenweit entfernt von den Vorstellungen der Union.
Ganserer hat vor wenigen Wochen entschieden, als Bundestagsabgeordnete zu kandidieren. „Es kann nicht sein, dass andere Personen über die Rechte von trans Personen sprechen, ohne dass ihre Stimmen gehört werden“, sagt sie. Immer wieder wurde sie seit ihrem Coming-out von Menschen aus der Community danach gefragt. Es gibt viele weitere queerpolitische Baustellen, die sie anpacken möchte: Lesbische Co-Mütter sollen endlich ab der Geburt ihrer Kinder rechtlich anerkannt werden, sexuelle und geschlechtliche Identität soll im Grundgesetz verankert werden, es soll einen nationalen Aktionsplan zur Stärkung queerer Menschen geben. Alles Themen, an denen sich Oppositionspolitiker:innen seit Jahren die Zähne ausbeißen. Und natürlich will Ganserer die medizinische Versorgung für trans Personen verbessern.
Im Wald ist Ganserer ausnahmsweise ungeschminkt, am Vormittag war sie bei der Laserepilation, ihre Haut im Gesicht und am Hals ist noch gerötet und geschwollen. Zu Dr. Poland geht sie nicht mehr, offiziell ist sie austherapiert, oder „nicht therapierbar“, scherzt sie.
Sie zieht ihre Mund-Nasen-Maske auf und steigt in ein Taxi, vom Wald in das Regionalbüro. Das Radio dudelt und durch das offene Fenster rauscht der Straßenlärm herein, Ganserer erklärt, wie viele Verhandlungsgespräche man für einen guten Listenplatz führen muss. „Ich kann ein Zugpferd für die Partei sein“, sagt sie.
Für den Nachmittag hat ihre Frau Ines Eichmüller einen Tisch im Literaturhaus reserviert. Der Kellner grüßt höflich, ein paar Tische weiter grölt eine Männergruppe glückselig in die Nachmittagssonne.
Eichmüller steht seit Jahren fest zu ihrer Frau. Sie war da, als die guten Herrenschuhe aus dem Kleiderschrank verschwanden, als das erste Passfoto von Tessa geschossen wurde, als die Hasskommentare auf Facebook und Twitter gemeldet werden mussten, weil dort Dinge standen wie: „Da bekomme ich Lust zu töten“ oder „Ausrottung der gesamten Familie durch Steinigung“. Eigentlich wollte sie im Hintergrund bleiben, das Familienleben am Laufen halten, das Coming-out in der Öffentlichkeit war schwierig genug.
Dann steht 2019 in einem der vielen Reformversuche des Transsexuellengesetzes, dass auch Ehepartner:innen vor Gericht angehört werden sollten. Eichmüller sieht, wie ihre Frau leidet, nun soll das Verfahren noch komplizierter werden. Sie schreibt einen offenen Brief an Horst Seehofers Frau, bittet um Unterstützung für einen besseren Reformentwurf, von Ehefrau zu Ehefrau. Sie erhält keine Antwort.
Hand in Hand schlendert sie mit Tessa durch die Nürnberger Innenstadt bis vor einen großen Torbogen. Hier beginnt die Straße der Menschenrechte, eine lokale Sehenswürdigkeit, siebenundzwanzig Betonpfeiler, acht Meter hoch. Man müsse sich über die kleinen Erfolge freuen, sagt Ganserer. Kürzlich bewilligte der Bayerische Landtag 400.000 Euro für Beratungsstellen für LGBT*s. Keine Zeitenwende, „aber die queerpolitische Tür ist ein Stück weit offen.“
Im April 2021 wird Ganserer auf Platz 13 der Landesliste der bayerischen Grünen für die Bundestagswahl 2021 nominiert. Wenn die Partei bei der Bundestagswahl so gut abschneidet, wie es die aktuellen Umfragen vorhersagen, wird sie ab Oktober im Bundestag sitzen. Vielleicht holt sie in Nürnberg, der Heimatstadt von CSU-Ministerpräsident Markus Söder, sogar das Direktmandat.
Ihre Bewerbungsrede findet ohne Parteiglamour statt. Abstandsregeln, Maskenpflicht, zwischen den Reden wird das Mikrophon desinfiziert. „Ich bin auch trans“, sagt Ganserer, ihre Stimme ist merklich heller, als vor einem Jahr. „Und ich weiß nicht, ob ihr euch vorstellen könnt, wie das ist, wenn du auf offener Straße von Menschen ausgelacht wirst, wenn sie vor dir ausspucken oder sich vor dir sogar bekreuzigen.“
Erst vor wenigen Monaten sah sie in das entsetzte Gesicht einer Passantin, irgendein Tag, irgendein Wohnviertel in Nürnberg. Ganserer erinnert sich an unverständliches Gemurmel, dann die schnelle Geste, mit der sich die Frau ein Kreuz vor der Brust schlug.
Nach der Wahl kommen die Glückwünsche. Eine der ersten Nachrichten schickt Parteikollegin Nyke Slawik, ein grünes Herz, „Freue mich sehr für dich“. Die 27-jährige Klimaschutzexpertin Slawik ist ebenfalls trans und hat einen guten Listenplatz ergattert. Ganserer antwortet sie beide werden dann wohl gemeinsam im Bundestag das Transsexuellengesetz dahin verbannen, wo es hingehört. „Auf den Müllhaufen der Geschichte.“ Aus Hamburg will trans Mann Adrian Hector antreten. Viel Unterstützung also für Ganserers Agenda. Dass sie alle im Parlament sitzen könnten, wird einen Unterschied machen, da ist sie sicher. „Weil es leichter ist, sich über jemand zu belustigen, der nicht anwesend ist.“
Wie unkompliziert das Leben als trans Frau ausnahmsweise auch laufen kann, erfuhr Tessa Ganser kürzlich bei der Bereitschaftspolizei in München, wo sich Landtagsabgeordnete gegen Corona impfen lassen konnten. Während sie dort mit hochgekrempeltem Ärmel saß, wunderte sich einer der Impfhelfer über ihren Ausweis. Der sei wohl falsch, dort stehe ein anderer Name. Die Ärztin verstand die Situation und sagte etwas wie: Das war früher mal. Dann strich sie den Namen auf dem Impfausweis kurzerhand durch und schrieb „Tessa“ darüber.