Riskante Dosis

Eine Mutter stirbt kurz nach der Geburt ihres Sohnes. Sie hat eine riskante Dosis Cytotec bekommen und wurde schlecht überwacht. Jede zweite Klinik in Deutschland nutzt das Medikament.
Als Alexander Mike seine schwangere Freundin Alissa umarmt, weiß er noch nicht, dass es das letzte Mal sein wird. Gegen Mitternacht verlässt er das Krankenhaus. Alissa hat in den vergangenen Stunden mehrmals ein Medikament bekommen, das künstliche Wehen auslösen kann. Ärzte befürchten, dass sie eine Schwangerschaftsvergiftung hat, deswegen soll die Geburt eingeleitet werden.
Es ist spät, Alissa soll sich ausruhen und Bescheid geben, sobald sie starke Wehen hat. Was in dieser Nacht weiter passiert, ist im Geburtsprotokoll und in Gerichtsakten festgehalten. Mike hat sie über Jahre hinweg gesammelt.
Als Alissa „schmerzhafte Wehen“ spürt, geht sie in den Kreißsaal. Wenige Minuten später schmerzt der Rücken, ihr ist übel. Sie läuft zur Toilette, bricht zusammen und bleibt am Boden liegen. Eine Schwester und eine Ärztin stützen sie auf dem Weg in den Kreißsaal, weil sie zu schwach ist. Alissa wird an ein Gerät angeschlossen, das die Herztöne des ungeborenen Kindes misst. Das Herz des Kindes schlägt nur langsam. Die Ärzte vermuten, dass sich die Plazenta vorzeitig gelöst hat. Sie fahren Alissa in den Operationssaal, Notfallkaiserschnitt.
Niklas kommt schwach zur Welt. Er hat während der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen und muss beatmet werden. Allisas Bauch wird genäht, sie verliert viel Blut bei der Operation, wird noch einmal operiert.
Alissa stirbt einige Tage später an Multiorganversagen.
„Ich war bei ihr bis zum letzten Herzschlag“, sagt Alexander. Er ist heute 32 Jahre alt, die Haare silbern. Sein Sohn Niklas spielt nebenan Nintendo und flitzt ab und zu durchs Wohnzimmer. Er ist fünf, spricht wenig, es fällt ihm schwer, sich zu fokussieren. Manchmal hat Alexander das Gefühl, sein Sohn lebe in seiner eigenen Welt.
Alexander sitzt im Schneidersitz auf einer cognacfarbenen Ledercouch, die Hände gefaltet. Er erzählt diese Geschichte, um andere Frauen vor dem zu schützen, was Alissa erlebt hat.
Zu hohe Dosen, zu schlechte Überwachung
Alissa bekam zur Einleitung der Wehen das Medikament Cytotec verabreicht. Die sechseckige Tablette, so groß wie ein Smartie, enthält als Wirkstoff Misoprostol. Der ist effektiv, es kommt seltener zu einem Kaiserschnitt als bei alternativen Medikamenten in der Geburtshilfe. Das zeigt eine Analyse des unabhängigen Cochrane-Instituts. Die Experten empfehlen alle zwei Stunden eine Dosis von 25 Mikrogramm. In manchen Ländern empfehlen Geburtshelfer auch 50 Mikrogramm alle vier Stunden.
Recherchen von BuzzFeed News und dem Bayerischen Rundfunk zeigen, dass diese Empfehlungen in Deutschland mitunter deutlich überschritten werden. So war es auch bei Alissa. Innerhalb von neun Stunden hat sie drei Mal 100 Mikrogramm Misoprostol in Form von Cytotec bekommen – fast das dreifache der empfohlenen Dosis. Ihr Fall ist ein extremer, weil die Dosen nicht nur hoch waren, sondern die Zeitabstände auch sehr kurz.
Wie alle Medikamente in der Geburtshilfe kann Cytotec Komplikationen auslösen. In seltenen Fällen kann die Gebärmutter reißen. Eine bekannte Nebenwirkung ist der Wehensturm, bei dem Wehen extrem dicht ohne spürbare Pausen aufeinanderfolgen, was dazu führen kann, dass das Kind nicht mehr genug mit Sauerstoff versorgt wird.
“Time is brain”, sagen Geburtshelfer.
Minuten, in denen das Gehirn des Kindes zu wenig Sauerstoff bekommt, können darüber entscheiden, ob es später sprechen, laufen und eigenständig Leben kann. Den Unterlagen zufolge litt Alissa in der Nacht der Geburt unter einem Wehensturm.
Zu ihrem Tod gibt es mehrere Gutachten. Eines davon hat der Facharzt Georg Gerstner geschrieben. Für ihn besteht „kein Zweifel, dass dieser bedauerliche mütterliche Todesfall verbunden mit dem kindlichen Geburtsschaden durch die ärztliche Geburtseinleitung mit Cytotec verursacht war“. Das Medikament sei zu hoch dosiert gewesen, man habe die Frau schlecht überwacht und zu spät reagiert.
Ein Strafverfahren wurde vor Kurzem gegen eine Geldauflage eingestellt. Ein Zivilverfahren läuft. Die Klinik möchte sich zu den Vorwürfen nicht äußern und verweist auf den Rechtsstreit.
Alexander Mike heißt eigentlich anders, sein Name und die weiterer Betroffener wurden in dieser Geschichte aufgrund der laufenden Verfahren geändert.
Ärzte gehen mitunter lax mit einer Tablette um, die lebensbedrohliche Nebenwirkungen haben kann

BuzzFeed News und der BR haben in den vergangenen Wochen mit mehreren Frauen gesprochen, die gegen Kliniken klagen, weil man sie nicht ausreichend über potenzielle Risiken mit dem Medikament Cytotec aufgeklärt habe. Sie vermuten, dass ihre Kinder durch Sauerstoffmangel bei der Geburt einen Hirnschaden erlitten haben.
Es sind seltene Fälle, über die Gerichte und Gutachter in jedem einzelnen Fall entscheiden müssen. Aber es zeigt sich ein Muster, das Gutachter und Ärzte bestätigen: die Frauen bekamen Cytotec in hohen Dosen oder als die Wehen bereits in Gang waren. Sie wurden schlecht überwacht, ihre Schmerzen nicht ernst genommen und Ärzte entschlossen sich spät für einen Notfallkaiserschnitt.
Nur selten stirbt eine Mutter bei der Geburt. So selten, dass man nicht sicher sagen kann, ob es bei der einen oder anderen Einleitungsmethode häufiger passiert. Für Alexander wird trotzdem immer die Frage bleiben, ob Alissa noch leben würde, wenn Ärzte verantwortungsvoller mit Cytotec umgangen wären.
Seine Geschichte steht exemplarisch für vieles, was schief läuft bei der Anwendung des Medikaments. Ärzte gehen mitunter lax mit einer Tablette um, die lebensbedrohliche Nebenwirkungen haben kann, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) warnt vor hohen Dosen aber kann nicht sanktionieren, und die Betroffenen müssen sich ihr Recht allein, in jahrelangen Prozessen, erstreiten.
Cytotec ist nur als Magenmedikament zugelassen – das macht seine Anwendung im Kreißsaal aber nicht illegal
In Deutschland wird jede fünfte Geburt eingeleitet, jede zweite Klinik verwendet dafür Cytotec. In der Packungsbeilage jedoch findet sich kein Hinweis auf die Anwendung in der Geburtshilfe, weil es ausschließlich als Magenmedikament zugelassen ist. Das macht seine Anwendung im Kreißsaal aber nicht illegal.
Ärzte können im so genannten Off-Label-Use Medikamente verschreiben, die für die Anwendung gar nicht zugelassen sind. Das kann sinnvoll sein, wenn Vorteile im Vergleich zu anderen Medikamenten bestehen, oder es für seltene Krankheiten keine zugelassenen Arzneimittel gibt. Ärzte handeln eigenverantwortlich und müssen Patienten über die Risiken aufklären. Behörden kontrollieren ihr Handeln dabei nicht.
Wird die Tablette per Hand zerteilt, wird es riskant.
Eine Tablette Cytotec enthält 200 Mikrogramm des Wirkstoffs Misoprostol. In der Geburtshilfe braucht man nur ein Viertel oder ein Achtel dieser Dosis. „Eine Tablette ohne Bruchrillen mit einem spitzen Gegenstand in vier oder acht Stücke zu zerteilen ist nahezu unmöglich“, sagt Ralph Heimke-Brinck, Fachapotheker für Klinische Pharmazie an der Universitätsklinik Erlangen. Der Wirkstoff sei zudem nicht gleichmäßig in der Tablette verteilt, ein Teil der Tablette kann dann sehr wenig enthalten, ein anderer hingegen viel zu viel:. „Wenn man dann 30 oder 40 Prozent mehr Wirkstoff hat, kann es zu einer Überdosierung mit Nebenwirkungen kommen. Im schlimmsten Fall kann das dann zu Schädigungen des Kindes führen oder die Gebärmutter kann reißen.“
Die Apotheker des Universitätsklinikums Erlangen stellen aus diesem Grund ein eigenes Präparat in Kapseln her, in dem sie eine große Menge an Cytotec-Tabletten fein zerreiben, mit Kapselfüllstoff verdünnen und das Mittel gering dosieren. Viele Klinikapotheken in Deutschland stellen eigene Präparate her.
Manchmal aber teilt das Klinikpersonal einfach die Tablette. Mehrere Frauen, mit denen BuzzFeed News und der BR gesprochen haben, berichten von halben oder geviertelten Tabletten. Eine Frau sagt, sie habe einen „Brocken“ bekommen, der keine Struktur mehr hatte.
Geht Klinikpersonal womöglich viel öfter falsch mit der Tablette um als bislang angenommen?
Eine bisher unveröffentlichte Online-Umfrage, die BuzzFeed News und dem BR vorliegt, zeigt, dass weitaus mehr Klinikpersonal in Deutschland die Tablette in den vergangenen Jahren von Hand zerteilte, als bisher angenommen. Christiane Schwarz, die in Lübeck am Lehrstuhl für Hebammenwissenschaften forscht, befragte 400 Hebammen, wie Kliniken mit Cytotec umgehen. Das Ergebnis ist nicht repräsentativ, aber es zeichnet ein breites Stimmungsbild.
Ein großer Teil gab an, gute Erfahrungen mit dem Mittel gemacht zu haben. 40 Prozent der Befragten aber berichteten, dass man Schwangeren geteilte Tabletten verabreiche. „Einige zerschneiden die Tablette, andere zerbröseln sie oder lösen das Medikament in Wasser auf, das ist ganz uneinheitlich“, sagt Schwarz.
Ihre Umfrage zeigt auch, dass das Klinikpersonal in seltenen Fällen Cytotec verabreichte, wenn die Frau zuvor einen Kaiserschnitt hatte. Davon raten Experten weltweit seit Jahren ab, weil die Gefahr zu groß ist, dass die Gebärmutter reißt. Schwarz glaubt, dass heute weniger Kliniken die Tablette teilen als zum Zeitpunkt der Befragung. „Aber die Dunkelziffer ist unklar“, sagt sie.
Der Einsatz von Misoprostol ist Experten zufolge sicher, wenn man es richtig anwendet und die Frau gut überwacht. Dann kann man bei einer Komplikationen schnell eingreifen. Friedrich Wolff, ehemaliger Leiter der Frauenklinik Krankenhaus Holweide in Köln, bewertet als Gerichtsgutachter immer wieder Fälle, in denen Cytotec verabreicht wurde und es zu Problemen kam. Es geht dabei meist um Fragen der Dosierung und mangelnder Überwachung.
„In den Händen eines Erfahrenen ist Cytotec ein ganz wertvolles Medikament”
Wolff hat selbst vor dreizehn Jahren mehr als 200 Geburten ausgewertet und festgestellt, dass hohe Dosen zu mehr Komplikationen führten. Alle Frauen hatten als erste Dosis 50 Mikrogramm Misoprostol bekommen. Eine Hälfte bekam danach die gleiche Dosis noch einmal, die andere Hälfte 100 Mikrogramm. „Bei der hohen Dosierung haben zehn Prozent der Frauen einen Wehensturm bekommen, der das Kind gefährden kann“, sagt Wolff. Bei niedriger Dosierung sei das so gut wie nie vorgekommen.
Wolff hat fortan keine hohen Gaben mehr verabreicht. Er warnt davor, das Medikament Cytotec anzuwenden, wenn die Klinik schlecht besetzt ist und Ärzte abends in Bereitschaft sind. „Das ist in meinen Augen gefährlich“, sagt Wolff. Man müsse die Frau gut überwachen, schnell reagieren. „In den Händen eines Erfahrenen ist Cytotec ein ganz wertvolles Medikament, aber in den Händen eines Unerfahrenen kann es lebensgefährlich sein.“
Der Gesundheitsminister schweigt
Im Frühjahr hatten Berichte der Süddeutschen Zeitung und des Bayerischen Rundfunks über Probleme im Umgang mit der Tablette eine Kontroverse ausgelöst. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) veröffentlichte eine Stellungnahme, in der sie die gute Studienlage zum Wirkstoff Misoprostol hervorhob. Die Bremer Gesundheitssenatorin organisierte einen runden Tisch, bei sich Hebammen und Ärzte über den Umgang mit Cytotec austauschten. Auch in Bayern diskutierten Geburtshelfer das Pro und Contra auf einer Tagung.
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft schrieb in einer Stellungnahme, eine Überdosierung des Mittels könne zu einem Wehensturm mit schwerwiegenden Schäden führen. Auch die Fachzeitschrift Arznei-Telegramm veröffentlichte einen Artikel: von “jahrelanger Anwendung überhöhter riskanter Dosierungen” ist darin die Rede, von fehlenden Studien über die richtige Dosierung, und “fehlender Regulierung” – mit anderen Worten: vom Untätigbleiben der Behörden.
Doch geändert hat sich wenig. Zwar erklärte Bundesgesundheitsminister Spahn am Rande einer Pressekonferenz im Februar, dass er die Berichterstattung zu Cytotec wahrgenommen habe und sich dazu äußern wolle, wenn er das ganze Bild kenne. Zehn Monate später steht seine Bewertung aber trotz Nachfrage noch aus.
19 Gebärmutterrisse, zwei verstorbene Mütter, drei verstorbene Babys – welche Rolle spielte Cytotec?
Inmitten all dieser Diskussionen fingen Frauen in ganz Deutschland an, Komplikationen, die sie im Zusammenhang mit Cytotec vermuten, selbst an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu melden. Ein Auszug der insgesamt 399 Meldungen liegt BuzzFeed News und dem BR vor. Es sind zahlreiche Berichte von Müttern, aber auch Meldungen von Ärzten und Fälle aus der Wissenschaft. Grundlage dieser Meldungen ist der Verdacht, dass Cytotec eine Nebenwirkung verursacht haben könnte. Eine Kausalbeziehung ist im Einzelfall nicht bewiesen. Die Daten sind zum Teil lückenhaft, deuten aber daraufhin, dass mitunter Dosen von 100 Mikrogramm Misoprostol vergeben wurden.
Mehrere Frauen berichten über den Abfall der Herztöne des Kindes, schmerzhafte Wehenstürme und einen vermuteten Sauerstoffmangel während der Geburt. In den Meldungen finden sich auch schwere Komplikationen im Zusammenhang mit Cytotec wie 19 Gebärmutterrisse, zwei verstorbene Mütter und drei verstorbene Babys.
Die Zahl der schwerwiegenden gemeldeten Verdachtsfälle veranlasste die Überwachungsbehörde BfArM im März, ein Warnschreiben an Ärzte zu verfassen. Darin heißt es, dass die Tablette nicht zur Teilung vorgesehen sei, weil daraus eine „ungenaue Dosierung“ resultieren könne. Außerdem gebe es alternative zugelassene Medikamente zur Geburtseinleitung.
Selbst der Hersteller von Cytotec, der Pharmakonzern Pfizer, stellt sich gegen die Verwendung in der Geburtshilfe. Auf Anfrage heißt es, dass „keine ausreichenden, randomisierten, kontrollierten und verblindeten Studien“ dafür vorlägen. Man strebe keine Zulassung in der Geburtshilfe an, schreibt Pfizer. Das Medikament sei patentfrei und es stünde Interessierten frei, das Mittel für andere Therapien zu erforschen.
Kritiker vermuten, Pfizer habe aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse daran, Cytotec in der Geburtshilfe zuzulassen: Die Tablette kostet nicht mal einen Euro, Alternativprodukte von Pfizer sind um ein Vielfaches teurer.
Nach sieben Jahren gibt es in Deutschland nun eine Leitlinie zur Geburtseinleitung
In den vergangenen Jahren gab es in Deutschland nicht einmal eine gültige Leitlinie zur Geburtseinleitung, die den Umgang mit Medikamenten im Kreißsaal regelt.
Erst im Dezember diesen Jahres hat die deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) eine neue Empfehlung herausgegeben. Die Herztöne des Kindes sollen sowohl vor der Gabe von Cytotec überprüft werden als auch beim Einsetzen starker Wehen. Im Umgang mit Cytotec aber bleibt Spielraum. Empfohlen wird lediglich, Dosen von mehr als 100 Mikrogramm Misoprostol zu vermeiden.
Deutsche Ärzte hätten viel Erfahrung mit Misoprostol, begründet Sven Kehl diese Entscheidung. Er leitet die Geburtshilfe an der Klinik Erlangen und hat an den Leitlinien mitgearbeitet. Nicht alle Schwangeren seien gleich, man wolle individuell auf sie eingehen.
In der Schweiz und in Kanada empfiehlt man gerade einmal 50 Mikrogramm, die Hälfte dieser Dosis. In den USA nur ein Viertel davon. Das unabhängige Cochrane-Institut schließt in der Neubewertung des Wirkstoffes Misoprostol Studien aus, in denen Frauen mehr als 50 Mikrogramm erhalten haben. Die Rate der Überstimulierungen sei „inakzeptabel”.
„Die Ärzte können nicht nachvollziehen, was man da für Ängste und Schmerzen hat“ – Aufklärung rückt in den Fokus

Es soll die Entscheidung der werdenden Mütter sein, ob sie ein Medikament nehmen oder ablehnen – das gilt auch für Cytotec. Ärzte müssen aufklären und informieren, bevor sie das Mittel geben. Mehrere Mütter berichten aber im Gespräch mit BuzzFeed News und dem BR, dass die Aufklärung über die Risiken der Tablette sehr knapp gewesen sei und dass seltene, aber schwerwiegende Komplikationen wie der Gebärmutterriss oder der Wehensturm nicht erwähnt wurden.
Aus einzelnen Aufklärungsbögen der Frauen geht hervor, dass Cytotec mitunter als „sehr gute“, „bequeme“ und „moderne“ Einleitungsmethode beworben wurde. Schwerwiegende Komplikationen wurden mehrfach nicht genannt, einmal heißt es lapidar: „Selten können Übelkeit, Durchfall oder fieberhafte Begleiterscheinungen auftreten.“
„Wenn mir jemand gesagt hätte, dass es passieren kann, dass ich einen Wehensturm bekomme oder die Gebärmutter reißen kann, dann hätte ich der Einleitung sicher nicht zugestimmt“, erzählt Nadine Fraas. Ihr sei klar, dass jeder Eingriff mögliche Nebenwirkungen habe, „aber ich hätte zumindest die Möglichkeit gehabt, mich zu entscheiden.“ In dem Cytotec-Aufklärungsbogen ihrer Klinik wird der Wirkstoff Misoprostol in „niedriger Dosierung“ als eine sichere Methode empfohlen. Fraas aber bekam mehrfach 100 Mikrogramm, eine sehr hohe Dosis. Das geht aus dem Geburtsbericht hervor. Sie spürte heftige Wehen, war mit ihrem Mann alleine. Die Hebamme kam, habe ihr eine Spritze gegeben. Man habe sie in den OP geschoben, als die Herztöne ihrer Tochter abfielen.
„Die Ärzte können nicht nachvollziehen, was man da für Ängste und Schmerzen hat“, sagt Fraas. Ihre Tochter hat die Geburt gut überstanden, aber sie kann sich nicht mehr vorstellen ein weiteres Kind zu bekommen.
„Eine Überstimulation ist für Frauen sehr unangenehm“, sagt Andrea Ramsell, die seit 25 Jahren als Hebamme arbeitet und im Präsidium des Deutschen Hebammenverbandes sitzt. „Wenn es passiert, dass die Wehen heftig und schnell kommen, dann brauchen Sie jemanden der Ihnen Halt gibt“. Hebammen entscheiden nicht über Dosierungen, das machen Ärzte. Aber Hebammen begleiten die Frauen bei der Geburt. Sie können die Situation erklären und dafür sorgen, dass Maßnahmen ergriffen werden, um die Komplikation zu stoppen. In den meisten Fällen gelingt das auch, sagt Ramsell. Es gibt Medikamente, die Wehen hemmen, es gibt den Notfallkaiserschnitt. Eine Hebamme betreut in Deutschland pro Schicht im Schnitt aber drei Frauen. „Ich kann Ihnen sagen, da laufen Sie sich die Hacken ab. Sie können nur eine Frau betreuen unter der Geburt.“ Der Hebammenverband fordert deshalb seit Jahren eine 1:1-Betreuung von Schwangeren, wie es sie etwa in Großbritannien gibt.
Sollten Ärzte frei entscheiden dürfen, welches Medikament sie verwenden, wenn eines für die Geburtseinleitung zugelassen ist und eines nicht?
Alexander Mike steht am Fenster, zieht an seiner Zigarette. Mit dem Rauchen hat er nach dem Tod von Alissa angefangen. Ein Foto von ihr steht auf einem Regalbrett im Wohnzimmer. Alissa lächelt mit entschlossenem Blick in die Kamera, in ihrer Hand hält sie eine Violine. Die beiden haben sich im Orchester kennen gelernt. Niklas hat seine leibliche Mutter nie gesehen, er nennt sie “Mama Blume”. Wenn sie gemeinsam das Grab besuchen, bringen sie Alissa einen Blumenstrauß mit.
„Bei einer Geburt geht es um zwei Menschenleben“, sagt Alexander Mike. Bis heute versteht er nicht, wie es sein kann, dass Ärzte im Off-Label-Use selbst entscheiden dürfen, wie sie mit einem Medikament umgehen, das schwere Nebenwirkungen haben kann. In Deutschland haben sich 60 Familien zusammengeschlossen, bei denen es im Zusammenhang mit Cytotec zu schwere Komplikationen kam. Auf der Internetseite Cytotec-Stories wollen sie Schwangere über den problematischen Umgang mit dem Medikament informieren. Sie fordern klare Regeln für Ärzte.
Und sie sind nicht allein.
Frauenbewegungen, die den Umgang mit Cytotec kritisieren, gibt es auch in den USA und in Frankreich. Dort warnen Gesundheitsbehörden bereits seit einigen Jahren vor Problemen mit dem Medikament. In der Fachzeitschrift Lancet sagte Dominique Martin, der damalige Direktor der französischen Überwachungsbehörde ANSM, man habe zahlreiche Warnungen und Empfehlungen an Ärzte herausgegeben, aber „Die Ärzte haben alle ignoriert“. Bereits vor drei Jahren warnte die ANSM wegen der Gefahr der Überdosierung davor, die Tablette zu teilen.
In Frankreich nutzen Ärzte mittlerweile unter strengen Auflagen ein Medikament, das seit September auch in Deutschland zugelassen ist. Es heißt Angusta und ist als Tablette mit einer Dosis von 25 Mikrogramm Misoprostol verfügbar. Wann der Hersteller Norgine mit dem tatsächlichen Verkauf beginnt, ist noch unklar. BuzzFeed und dem BR liegt das Dokument vor, in dem die Anwendung des Mittels beschrieben wird. Dort heißt es, das Medikament dürfe nur verabreicht werden „wo Möglichkeiten zur kontinuierlichen Überwachung“ vom Fötus bestehen. Die empfohlenen Dosen liegen bei 25 bis 50 Mikrogramm.
Sollten Ärzte auch dann noch frei entscheiden, welches Medikament sie verwenden, wenn eines für die Geburtseinleitung zugelassen ist und eines nicht? Wenn beim einen die Verwendung reguliert ist und es im Umgang mit dem anderen Probleme geben kann?
Das Gesundheitsministerium schreibt auf Anfrage: Es „obliegt alleine der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt im Rahmen seiner Therapiefreiheit“ zu entscheiden, ob ein zugelassenes Arzneimittel im Einzelfall auch in einer Indikation angewendet werden soll, für die es nicht zugelassen ist.
Auch die Überwachungsbehörde BfArM, die Medikamente überwacht, ist machtlos. Sie kann zwar Verdachtsmeldungen sammeln und Briefe an Ärzte schreiben. Sie kann hoffen, dass die Mahnung wirkt. Aber sie kann keine Tablette für eine Anwendung verbieten, die sie niemals zugelassen hat.
BuzzFeed News recherchiert weiter zum Thema.
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