So findet sich keine eigenhändige Verpflichtungserklärung in den Unterlagen und auch kein Hinweis auf eine Verpflichtung per Handschlag. Die kommt noch, oder wurde in den Wendewirren entsorgt, sagen die einen. Die gab es nie, sagt Lammel gegenüber BuzzFeed News – und hat darüber auch eine eidesstattliche Versicherung abgegeben.
In der „rbb-Abendschau“ heißt es, Lammel habe sich mit seinem Führungsoffizier in einer „konspirativen Wohnung“ der Stasi getroffen.
Lammel erwidert, nachdem die Stasi ihn mehrmals zuhause aufgesucht habe, habe er gesagt, dass er das nicht mehr wolle und dass er auch keinen Dienstsitz der Stasi betreten werde – und darum habe ihm der Stasi-Mann angeboten: „Na dann komm doch zu mir“. Er habe direkt gemerkt, dass das nicht die Privatwohnung des Mannes sei und sei danach nie wieder dorthin gegangen.
In der „rbb-Abendschau“ heißt es, es gebe Berichte von Lammel, zum Beispiel über westliche Konzerne oder Besuche in der britischen Botschaft.
Lammel erwidert, die Berichte habe alle der Führungsoffizier geschrieben, in die Botschaft sei er seit seinem Anglistik-Studium immer mal wieder zu Kulturveranstaltungen eingeladen worden, und die westlichen Konzerne seien Besuche auf Messen gewesen, bei denen er sich als Fotojournalist Fotoausrüstung angeschaut habe.
In der „rbb-Abendschau“ heißt es, der Führungsoffizier habe vermerkt, Lammel habe sich „auftragsgemäß“ verhalten und „erfolgreich“ berichtet.
Lammel erwidert, er habe dort nur Belanglosigkeiten erzählt, der Führungsoffizier habe unter Druck gestanden und hätte liefern müssen, mehr nicht.
Damit gehört dieser IM-Fall zu den Ausnahmen von der Regel.
Tatsächlich hat der Führungsoffizier zwei Jahre lang keinen anderen IM angeworben. Das geht aus den BuzzFeed News und Übermedien vorliegenden Stasi-Dokumenten hervor. Lammel ist diesen Dokumenten zufolge von 1984 bis 1988 als „Vorlauf-IM“ geführt und 1988 dann zum IM umregistriert worden. Als Deckname wurde „Michael“ vergeben – was keine sonderlich gute Tarnung ist, denn Michael ist Lammels zweiter Vorname, der sogar in seinem Ausweis steht.
Helmut Müller-Enbergs, von 1992 bis 2019 als wissenschaftlicher Referent beim BStU und Herausgeber des dreiteiligen Standardwerks „Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit“, hat sich in einer Stellungnahme für BuzzFeed News und Übermedien mit dem Fall Bernd Lammel befasst. Gab es damals Druck auch auf Führungsoffiziere, eine gewisse Anzahl IMs zu werben? Dazu seien ihm keine wissenschaftlichen Untersuchungen oder Stasi-Akten bekannt, schreibt Müller-Enbergs. Anhand der bekannten Dokumente sei jedenfalls hinreichend belegt, dass Lammel der Stasi als IM galt – aber auch nach dem Stasi-Unterlagengesetz zufolge als solcher einzugruppieren ist.
Doch es kann durchaus sein, dass Lammel, wie er beteuert, gar nicht wusste, dass man ihn zum IM gemacht hat. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten der Historikerin Francesca Weil, das der DJV Berlin damals in Auftrag gegeben hat. Weil hatte zuvor rund 500 Stasi-Akten ausgewertet. In Ihrem Gutachten über Lammel heißt es:
„In der Regel wussten IM, dass sie konspirativ mit der Staatssicherheit zusammenarbeiteten, da dieser IM-Tätigkeit ein Werbungsgespräch vorausging. Hierbei wurde die Zusammenarbeit mit einer eigenhändig verfassten Verpflichtungserklärung oder per Handschlag besiegelt. Derartige Belege gibt es zu IM „Michael“ nicht. Nach jetzigem Wissensstand muss daher davon ausgegangen werden, dass [der Führungsoffizier] den IM-Vorlauf eigenständig umregistriert und als IM-Vorgang geführt hat, ohne dass ein Werbungsgespräch stattgefunden hat und ohne Kenntnis des Betreffenden. Damit gehört dieser IM-Fall zu den Ausnahmen von der Regel.“
Welche Konsequenzen hat der Fall für die Beteiligten in der Stasi-Unterlagenbehörde? Möglicherweise überhaupt keine.
Der Prüfbericht endet 2017 mit der ernüchternden Feststellung: „Hinsichtlich der festgestellten Unzulässigkeit des Antrags ist eine Änderung durch die Auswertung mit dem Fachbereich nicht zu erwarten. Da die Bearbeitung des Antrags mittlerweile abgeschlossen ist, besteht diesbezüglich kein Handlungsbedarf.“ Im Klartext: Das Kind ist ohnehin in den Brunnen gefallen.
Auf die konkrete Nachfrage von BuzzFeed News und Übermedien, ob der vernichtende Prüfbericht personelle Konsequenzen zur Folge gehabt habe, wollte sich die Behörde in den vergangenen Tagen nicht äußern. Beim DJV jedenfalls klingeln die Alarmglocken. In einem am Montag veröffentlichen Statement schreibt der Bundesvorsitzende Frank Überall an Monika Grütters, der die Stasi-Unterlagenbehörde als Kulturstaatsministerin untersteht, man erwarte eine „Aufklärung der Vorgänge, die zumindest den Anschein erwecken, dass Medienschaffende und Gewerkschafter/innen systematisch und ohne gesetzliche Grundlage ausgeforscht wurden“ – und auch, welche Motivation bei den Behördenmitarbeitern dahinter stecke. Die abgefragten DJV-Mitglieder würden „unter Generalverdacht gestellt – und das ist unverantwortlich.“
(Anmerkung der Redaktion (3. Mai 2021): Wir haben nach der Veröffentlichung zwei Stellen überarbeitet und dort noch präziser formuliert, welche Redaktion welche Unterlagen erhalten hat.)
Diese Recherche ist eine Kooperation von BuzzFeed News und Übermedien. Die Redaktion hat dafür hunderte Seiten an Dokumenten ausgewertet und mit zahlreichen Expertinnen und Experten gesprochen. Alle oben genannten Unterlagen liegen der Redaktion vor.
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