Titandioxid in Zahnpasta: Hersteller verzichten auf krebsverdächtigen Stoff

Für Lebensmittel hat die EU den Zusatz Titandioxid als „nicht mehr sicher“ eingestuft. Jetzt kündigen auch mehrere Zahnpasta-Hersteller einen Verzicht an. Doch nicht alle sehen Handlungsbedarf – und die Behörden tappen bei der Risikoeinschätzung im Dunkeln.
Von Martin Rücker
Ist die Zahnpasta strahlend weiß oder hat sie weiße Streifen, hängt dies in den meisten Fällen an Titandioxid, einem ebenso verbreiteten wie umstrittenen Farbstoff. Die weitaus meisten Pasten enthalten das Weißpigment, auf dem Etikett steht es oft unter der Fachbezeichnung CI 77891.
Auch in Kaugummi, Zuckerguss oder Schokonüssen sorgt Titandioxid für reinstes Weiß und glänzende Überzüge – noch. Anfang Mai hatte die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA den mineralischen Stoff als „nicht mehr sicher“ für Lebensmittel eingestuft. Es sei nicht auszuschließen, dass Titandioxid bei oraler Aufnahme erbgutschädigend und krebsauslösend wirkt. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides will den Zusatzstoff für Lebensmittel daher verbieten, auch die Schweiz plant ein Verbot bis spätestens Ende des Jahres.
Zahnpasta von dm, Unilever und Nenedent bald ohne offenbar krebserregendes Titandioxid
Wie auch bei Medikamenten (BuzzFeed News Deutschland berichtete vor rund zwei Wochen exklusiv) zeichnet sich bei Zahnpasta bisher kein Verbot ab. Allerdings kündigen auf Anfrage mehrere Hersteller an, ihre Produkte umzustellen und Titandioxid zu verbannen. Wie die Drogeriekette dm bei ihrer Eigenmarke Dontodent. Man verfolge nicht nur die wissenschaftlichen Entwicklungen, sondern „auch die Bedürfnisse unserer Kunden“, erklärt dm-Geschäftsführerin Kerstin Erbe. „In diesem Zusammenhang arbeiten wir bereits seit einiger Zeit an Rezepturen ohne Titandioxid, die wir unseren Kunden hoffentlich bald zur Verfügung stellen können.“
Erbe bestätigt, dass Titandioxid keine funktionale Bedeutung für die Zahnpasta hat – es geht allein um den optischen Effekt, das strahlende Weiß. „Bisher stehen uns keine geeigneten Alternativen zur Verfügung, um die vom Kunden gewohnte weiß-transluzente Optik auch ohne Titandioxid zu erreichen. Sofern in der Rezeptur auf das Weißpigment verzichtet wird, erhält die Zahncreme in der Regel eine gräuliche Farbe.“
Der Unilever-Konzern (u.a. „Signal“) gibt auf Anfrage an, aufgrund von „verändernden Verbraucherpräferenzen“ schrittweise auf Titandioxid-freie Zahnpflegeprodukte umzustellen. „In Deutschland enthält nur noch ein einziges Produkt diesen Inhaltsstoff, an dessen Ersatz wir derzeit arbeiten“, so eine Sprecherin per E-Mail.
Und auch das Berliner Unternehmen Dentinox, das die weit verbreitete Kinder-Marke Nenedent herstellt und Titandioxid derzeit schon in seiner Baby-Zahnpasta “Erstes Zähnchen” einsetzt, stellt einen Verzicht in Aussicht. Die Entwicklung einer neuen Rezeptur sei bereits „weit fortgeschritten“, teilt Apotheker Gerd Koßmann mit, bei Dentinox für das Qualitätsmanagement zuständig. Er gehe davon aus, „noch in diesem Jahr die Nenedent Zahncremes ohne Titandioxid auf den Markt zu bringen.“ Voraussichtlich bis Herbst werde entschieden, ob das Weißpigment ersetzt oder einfach weggelassen wird, noch seien zwei Versionen in der Stabilitätsprüfung. Dabei habe man durchaus zur Kenntnis genommen, dass mit der Kinderzahnpasta von Elmex ein gängiges Konkurrenzprodukt auf dem Markt ist, das ohne Titandioxid auskommt – es erscheint vielleicht nicht strahlend, aber immer noch relativ weiß.
Marktführer Colgate will sich nicht zu Titandioxid in seinen Zahncremes äußern
Andere Hersteller sehen offenbar keinen Handlungsbedarf – oder wollen sich nicht äußern. „Nach Rücksprache mit unserer globalen Corporate Communications Abteilung können wir zum Thema Titandioxid leider kein Statement veröffentlichen“, teilte eine Sprecherin des Marktführers Colgate-Palmolive (Colgate, Dentagard) fast eine Woche nach Anfrage mit. GlaxoSmithKline (Odol) ging auf konkrete Fragen nicht ein, bestellte nur, dass die EFSA-Bewertung geprüft werde. Auch die Drogeriekette Rossmann wollte auf Fragen „nicht im Detail eingehen“ – man prüfe „aktuell“ die Datenlage. Kurios in diesem Zusammenhang der folgende Satz aus der gleichen E-Mail: „Auch unter Berücksichtigung der neuen Datenlage sind all unsere Zahncremes als unbedenklich und sicher einzustufen.“
„Nach derzeitigem Kenntnisstand kein Sicherheitsrisiko“, lautet auch die Einschätzung bei Procter & Gamble – der Konzern (Oral-B, blend-a-med) möchte nun zunächst die Bewertung und mögliche Maßnahmen der europäischen Behörden abwarten. Ein Verzicht auf Titandioxid würde die Herstellung gestreifter Zahnpasta „erschweren“, argumentiert der Konzern – und die Streifen signalisierten den Menschen „eine gründliche Reinigung und Frische“, machten also „einen großen Teil des Putzerlebnisses“ aus, was daher „auch zum regelmäßigen Putzen und der damit verbundenen Zahnhygiene“ beitrage.
Nano oder nicht? Das Risiko der Zahnpasta hängt von Partikelgröße des Titandioxid ab
Doch wie riskant ist Titandioxid in Zahnpasta? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten – jedenfalls nicht ohne die Daten der Hersteller. Die EFSA bezieht ihre Einstufung der Verbindung als „nicht sicher“ ausdrücklich nur auf Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff (E 171). Hier konnte die Behörde nach Auswertung der Studienlage ein Krebsrisiko bei oraler Aufnahme nicht ausschließen. Als problematisch gilt dabei, wenn das Titandioxid zum Teil auch aus winzigen Partikeln in Nanogröße besteht.
Zahnpasta wird nicht wie Lebensmittel verzehrt, doch eine niederländische Studie legte 2016 nahe, dass bei Kindern das versehentliche Verschlucken von Zahnpasta wesentlich zur Titandioxidaufnahme beiträgt. Dass es dabei nur um geringe Mengen geht, ist nicht entscheidend: Beim Lebensmittelzusatzstoff ging die EFSA davon aus, dass sich verschlucktes Titandioxid im Körper anreichern kann, eine sichere Aufnahmemenge konnte sie daher nicht benennen. Fraglich ist zudem, welche Rolle der Kontakt mit der Mundschleimhaut spielt. Eine norwegische Studie kam 2017 zu dem Schluss, dass Titandioxid in Nanopartikelgröße die Schleimhaut durchdringen kann. Die Europäische Kommission gab dazu auf Nachfrage keine Einschätzung ab.
Zentral für die Risikobewertung ist also die Frage: Enthält „CI 77891“ in Zahncremes Nanopartikel oder nicht? Bei Lebensmitteln zeigten zahlreiche Untersuchungen, dass das dort eingesetzte Titandioxid regelmäßig auch Nanopartikel enthielt. „Rückschlüsse auf CI 77891 lässt das nicht direkt zu, da es unterschiedliche Herstellungsarten dieser Pulver gibt und Pigmente jeweils sehr spezifische Größenverteilungen haben können“, sagt die Chemikerin Dr. Natalie von Götz, die an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich Untersuchungen zu Titandioxid geleitet hat. Tatsächlich geben mehrere Zahnpasta-Hersteller ausdrücklich an, bei ihren Produkten „kein Nanomaterial“ einzusetzen.
Hersteller von Zahnpasta verschleiern Angaben zu möglichen Nano-Bestandteilen in Titandioxid
Was sie damit nicht sagen ist: Ob ihre Zahnpasta damit auch wirklich frei ist von Titandioxid-Nanopartikeln. Denn ob dm, Procter & Gamble oder Unilever – sie alle berufen sie sich bei ihrer Aussage auf die formaljuristische Definition von „Nanomaterial“ in der EU-Kosmetikverordnung. Und die Verordnung definiert nur das als Nanomaterial, was gezielt in dieser Partikelgröße hergestellt wurde. Ob das in der Zahnpasta genutzte Titandioxid – wie bei Lebensmitteln – am Ende auch Nanopartikel enthält, ungewollt, ist damit noch lange nicht gesagt. Die europäischen Regularien ließen das zu, solange die Anzahl der Teilchen in Nanogröße unter 50 Prozent bleibt. „Damit können Hersteller mit Recht behaupten, dass ein Kosmetika-Inhaltsstoff kein Nanomaterial ist, er kann aber trotzdem einen kleinen Anteil von Nanopartikeln aufweisen“, erklärt Wissenschaftlerin von Götz.
Anders als bei Lebensmitteln gibt es bei Zahnpasta kaum veröffentlichte Untersuchungen zu den Partikelgrößen. Einzelne Untersuchungen von Wissenschaftlern aus Bahrain, dem Technologiekonzern Agilent oder einer dänisch-schweizerisch-deutschen Forschergruppe geben an, Titaniumdioxid-Teilchen in Nano-Größe gefunden zu haben, doch die Untersuchungen gelten entweder als methodisch umstritten oder haben nur einzelne Produkte analysiert. Jedenfalls ist die Stichprobe zu gering, um eine Verallgemeinerung zuzulassen.
Um das Risiko näher einschätzen zu können, müsste also die genaue Partikelgrößenverteilung des Titandioxids in den Zahnpasten auf dem Markt bekannt sein. Doch in dieser entscheidenden Frage sind die Risikobehörden blank. Nano oder kein Nano in der Zahnpasta – weder die EFSA noch die Europäische Kommission und ihr für die Bewertung von Kosmetik-Inhaltsstoffen zuständiges Fachgremium, der Wissenschaftliche Ausschuss für Verbrauchersicherheit (SCCS), hatten auf Anfrage eine Antwort. Auch das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) kann die Lage derzeit „nicht beurteilen“, ihm lägen schlicht keine Daten vor, in welchen Partikelgrößen Titandioxid in Zahncremes zu finden ist.
EU-Kommission kündigt Regulierung von Zahnpasta an, aber die Details sind noch offen
Wer das wissen sollte, sind die Zahnpasta-Hersteller. Auf Anfrage machte keines der angefragten Unternehmen konkrete Angaben. „Detaillierte Angaben zur Partikelgröße und Verteilung von spezifischen kommerziellen Materialien unterliegen der Vertraulichkeit und können daher leider nicht weitergegeben werden“, ließ etwa Procter & Gamble wissen – freilich nicht ohne zu „versichern“, dass es sich bei dem genutzten Titandioxid nicht um Nanomaterial im Sinne der gesetzlichen Verordnung handele.
Die gesetzliche Grundlage für die Firmen könnte sich allerdings ändern. Ohne Details zu nennen, kündigte die Europäische Kommission auf Anfrage regulatorische Maßnahmen für die Kosmetikbranche an. „Derzeit arbeitet die Kommission an der Verabschiedung einer Verordnung, die die Verwendung von TiO2 [Titandioxid; Anm. der Redaktion] in kosmetischen Mitteln einschränken und weiter begrenzen soll“, schreibt eine Sprecherin. Was das für die Zahnpasta heißt? Hierzu werde die Kommission den Wissenschaftlichen Ausschuss für Verbrauchersicherheit (SCCS) mit einer Einschätzung beauftragen. Anschließend werde sie entscheiden, „ob zusätzliche Regulierungsmaßnahmen erforderlich sind“.
[Offenlegung: Der Autor war bis Februar 2021 Geschäftsführer der Verbraucherorganisation foodwatch, die sich für ein Verbot von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff ausspricht. Seit März arbeitet er wieder als freier Journalist. Die Recherche basiert auf öffentlich zugänglichen Dokumenten und offiziellen Stellungnahmen von Behörden. Sie ist von der Redaktion – wie alle Recherchen von BuzzFeed News – im Detail geprüft worden. Die wichtigsten Quellen haben wir verlinkt.]
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