Urteil nach mehr als zehn Jahren: Stadt Hamburg muss Opfer von Polizeigewalt entschädigen
Welcher Polizist zugeschlagen hat, konnte nicht ermittelt werden. Trotzdem muss die Stadt zahlen. Das entschied nun das Landgericht Hamburg.
Die Stadt Hamburg muss einem schwer verletzten Opfer eines Polizeieinsatzes Schadensersatz und Schmerzensgeld zahlen. Das hat das Landgericht Hamburg entschieden.
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Johannes M. vor mehr als zehn Jahren auf dem Hamburger Schanzenfest von einem Polizeibeamten mit einem Schlagstock so schwer verletzt wurde, dass er bis heute unter den körperlichen und psychischen Folgen zu leiden hat. M. ist seitdem arbeitsunfähig und wird dies vermutlich für den Rest seines Lebens auch bleiben.
BuzzFeed News Deutschland hatte Johannes M. bereits vor einem Jahr getroffen und über den Fall berichtet. Damals sagte sein Anwalt Dieter Magsam gegenüber BuzzFeed News: „Niemand hat ihm einen Gummiknüppel übergezogen. Sondern man hat ihm das kurze Ende eines Tonfa (Erklärung: ein spezieller Polizei-Schlagstock) von vorn in den Kopf gerammt. Um es mal so salopp zu sagen: Man hat meinem Mandanten das Hirn zermatscht.“
Der Anwalt der Stadt will wissen, ob Johannes M. sich das selbst zugefügt haben könnte

Tatsächlich hatte Johannes M. nicht nur einen offenen Schädelbruch sondern auch Quetschungen des Hirns erlitten. Wie es dazu kam, das sollte vor Gericht geklärt werden. Das Landgericht Hamburg hatte dafür sogar extra ein zweites medizinisches Gutachten in Auftrag gegeben. Am 10. Januar wurde der Gutachter vom Gericht gehört.
Da hatte Johannes M. schon wieder zwei Nächte nicht geschlafen. Kurz vor dem Termin im Gericht sei ihm so schlecht gewesen, dass er sich übergeben musste, erzählt er BuzzFeed News am Tag der Verhandlung. Als der Gutachter um 13 Uhr beginnt, seine Untersuchungen zusammenzufassen, verhärtetet sich M.'s Gesicht. Er zittert, kämpft mit den Tränen. Schon zehn Minuten später muss sein Anwalt um eine Unterbrechung bitten.
Die Stadt Hamburg hatte zunächst bestritten, dass es den fraglichen Polizeieinsatz überhaupt gegeben hatte. Als später ein Video davon auftauchte, fehlten genau die fraglichen Sekunden. Erst ein halbes Jahr nach dem Einsatz wurden die 24 Schlagstöcke der „Beweissicherungs- und Festnahme-Einheit Blumberg" auf DNA-Spuren untersucht. Es waren keine mehr zu finden.
„Diese Lücke bleibt einfach. Die kann ich auch nicht schließen“, sagt der Gutachter Anfang Januar vor Gericht. Der Vertreter der Stadt Hamburg fragt daraufhin, ob die Verletzungen auch von einem Sturz, einem Wurf mit einem Stein oder einer Flasche stammen könnten? Wie es denn mit Zwillenbeschuss aussähe? Ob Johannes M. womöglich selbst mit solcher Kraft irgendwo gegengelaufen sei, dass er sich einen offenen Bruch des Schädels selbst habe zufügen können? Da platzt Johannes M., der die ganze Zeit ruhig an seinem Platz sitzt, der Kragen: „Ich will das jetzt mal wissen: Was hätte ich denn tun müssen, dass meine eigene Bewegung das verursacht?“
Sachlich und ruhig antwortet der Gutachter: Er hätte „lossprinten“ müssen, und dann „mit 20 bis 30 km/h“ und vor allem „ungebremst“ gegen den Gegenstand laufen müssen. Der Vertreter der Stadt Hamburg stellt keine Nachfragen.
Amtshaftung statt den einzelnen Polizisten zu verurteilen
Schon bei früheren Ermittlungen war versucht worden, den Polizisten zu finden, der Johannes M. mit seinem Schlagstock die Stirn durchschlagen hat. Doch die „durchgeführten Vernehmungen lieferten (...) keinen Täterhinweis“, so heißt es im jetzt veröffentlichten Urteil.
Auch deswegen ist das Urteil interessant: Denn es nimmt nicht einzelne Beamte in die Verantwortung, sondern die Stadt Hamburg in Amtshaftung.
In einem solchen Fall ist es nicht nötig, einem bestimmten Beamten die Tat nachzuweisen. Vielmehr wird angenommen, dass alle zum fraglichen Zeitpunkt eingesetzten Polizisten unter der Verantwortung des jeweiligen Polizeiführers standen – und dass damit auch die jeweilige Behörde, in diesem Fall die Stadt Hamburg, für eventuelle Verfehlungen haften muss.
Erst kürzlich hatte auch das Landgericht Frankfurt geurteilt, das Land Hessen sei im Wege der Amtshaftung für Verletzungen haftbar, die einem Fußballfan von Beamten bei einem Fußballspiel im Februar 2019 zugefügt worden waren.
Jetzt geht es um die Zahlen – das kann nochmal Jahre dauern
Das Urteil gegen die Stadt Hamburg ist zunächst ein sogenanntes „Grundurteil“. Das bedeutet, dass das Gericht zunächst darüber entschieden hat, ob Johannes M. überhaupt Schadensersatz und Schmerzensgeld fordern kann.
Nun kann verhandelt werden, wie viel Entschädigung Johannes M. zusteht. Doch dafür muss das jetzt ergangene Urteil erst einmal rechtskräftig werden. Ob es dazu kommt, ist unsicher: Ein Sprecher der Hamburger Innenbehörde erklärte auf Anfrage von BuzzFeed News, das Urteil liege erst seit kurzem vor. Nun werde geprüft, ob Rechtsmittel eingelegt werden. Die Entschädigungssumme kann erst danach geklärt werden – in einem neuen Verfahren, in dem die Stadt Hamburg dann ebenfalls wieder Rechtsmittel einlegen könnte.
Rechtsanwalt Magsam fordert für seinen Mandanten 125.000 Euro Schmerzensgeld, 150.000 Euro Verdienstausfall bis jetzt und eine lebenslange Renten für die Zukunft. Doch bereits jetzt könnten Renten- und Sozialkassen Gelder von Johannes M. zurückfordern, die sie in den vergangenen Jahren an ihn gezahlt hatten. „Warum soll das auch der Beitragszahler zahlen? Es ist doch ganz klar, dass die Verantwortung hier bei der Polizei liegt. Aber wenn die Stadt Hamburg es so will, dann kann es im schlimmsten Fall noch Jahre dauern, ehe mein Mandant Ruhe hat“, sagt Rechtsanwalt Dieter Magsam gegenüber BuzzFeed News.
Ob Johannes M. die Kraft dafür aufbringen kann, sei mehr als ungewiss, so Magsam. An guten Tagen kann sich Johannes M. maximal eine Stunde am Stück konzentrieren, an schlechten Tagen deutlich weniger. Ständig hat er Kopfschmerzen, auf beiden Ohren einen Tinitus. Wacht er morgens auf, ist ihm übel. Jeden Tag muss er Tabletten nehmen. Seit mehr als zehn Jahren muss Johannes M. mit all diesen Folgen leben. Mit den Folgen einiger weniger Sekunden in jener Nacht im Jahr 2009, die ihn bis heute vor Gericht beschäftigt.
Das Urteil gegen die Stadt Hamburg in voller Länge
Über die Geschichte von Johannes M. haben wir auch in unserem Podcast „Unterm Radar“ gesprochen – hier anhören:
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