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Recherche zeigt: So versagen Behörden bei Missbrauch durch Ärzte

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Von: Juliane Löffler

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Wenn Ärzte ihre Patientinnen missbrauchen Machtmissbrauch Übergriff
Viele Menschen, die Opfer von Missbrauch und Übergriffen durch Ärzte und Psychotherapeuten werden leiden unter schweren Folgen. © Illustration: Christina S. Zhu

Wenn Ärzte und Psychotherapeuten ihre Patientinnen sexuell missbrauchen, bleiben die Taten häufig im Verborgenen, zeigt eine Recherche von BuzzFeed News.

Von Juliane Löffler und Margherita Bettoni, Mitarbeit: Alina Ryazanova

Ärzte, die ihre Patientinnen missbrauchen, werden in Deutschland selten verurteilt und können teils weiter praktizieren.* Das zeigen monatelange Recherchen von BuzzFeed News Deutschland. Die Recherchen zeigen auch, dass Behörden versagen, weil sie aufeinander warten, statt zu handeln. Und dass sich an diesem strukturellen Problem seit Jahren fast nichts ändert.

Über Monate haben vier Reporterinnen für BuzzFeed News Deutschland* sowie weitere europäische Medien zu sexualisiertem Missbrauch durch Ärzte und Psychotherapeuten recherchiert. Das Ergebnis ist die erste umfassende Recherche im Dunkelfeld „Missbrauch im Medizinbetrieb“.

Wie häufig es hinter geschlossenen Türen in deutschen Arztpraxen zu Missbrauch kommt, weiß niemand, es gibt keine aktuellen und umfassenden Studien dazu. „Das Dunkelfeld ist riesig”, sagt der Schweizer Psychiater Werner Tschan, der sich als einer der wenigen seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt. 

Missbrauch im Medizinbetrieb: Hunderte Fälle, aber nur rund 50 entzogene Approbationen

Allein durch eine Recherche in Archiven deutscher Medien hat BuzzFeed News Berichte zu fast 100 öffentlich gewordenen Missbrauchsfällen durch Ärzte und Therapeuten seit 2008 gefunden. In einer aktuellen Umfrage haben sich noch einmal knapp 140 Personen bei BuzzFeed News gemeldet, die von Übergriffen und Missbrauchserfahrungen in der Vergangenheit berichten, es sind überwiegend Frauen.

Der Ethikverein, der Missbrauchsvorwürfe aus dem Bereich Psychotherapie sammelt, registriert 350 Hinweise im Jahr, in jedem vierten Fall geht es um sexualisierte Gewalt gegen Patient:innen. Und der Ombudsmann für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen in Hessen, Meinhard Korte, hat in den vergangenen Jahren mehr als 500 Meldungen aus ganz Deutschland erhalten. Rund 80 davon seien „gravierende Fälle” von Missbrauch, sagt Korte, also von Körperverletzungen oder sexualisierter Gewalt.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kam es zwischen 2008 und 2019 zu insgesamt 235 Verurteilungen wegen „Sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses“. Unter den Verurteilten sind auch Berufsgruppen wie etwa Pflegepersonal von Menschen mit Behinderung. Anfragen in allen 16 Bundesländern zeigen zugleich, dass im selben Zeitraum rund 50 Fälle erfasst wurden, in denen Ärzten und Psychotherapeuten im Zusammenhang mit Sexualdelikten die Zulassung widerrufen wurde. Dies seien Einzelfälle, heißt es auf Anfrage aus den Behörden. Ein Muster aber gibt es: Bei den Tätern handelt es sich ausschließlich um Männer.

Ein komplexes System, das Tätern von Missbrauch und Übergriffen etliche Lücken und Schlupflöcher bietet

„Die Ärztekammer wartet auf die strafrechtliche Verfolgung. Und die meisten Gerichte denken, die Kammer wird es schon machen“, sagt Christina Clemm. Sie ist Strafrechtsanwältin und vertritt seit 25 Jahren immer wieder Frauen, die von Ärzten missbraucht worden sind. „Das ist ein ungutes Zusammenspiel.“ Immer wieder beobachte Clemm, dass Verfahren sich über Jahre ziehen, ohne dass der Beschuldigte ernsthafte berufliche Konsequenzen erlebe.

Betroffene können sich an die Heilberufekammern für Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen wenden, die zuständig für die Berufsaufsicht sind. Oder sie gehen zur Polizei. In Deutschland gibt es, anders als in anderen Ländern, Regelungen im Strafrecht, wenn Ärzte ihre Patient:innen missbrauchen. Doch die Verjährungsfristen sind kurz, die Verfahren lang und die Strafen, wie auch sonst im Sexualstrafrecht, verhältnismäßig niedrig. 

Insgesamt landen Fälle von sexualisierter Gewalt oder Übergriffen nur sehr vereinzelt bei den zuständigen Ärztekammern, ergeben bundesweite Anfragen. Einige, wie die Ärztekammer in Mecklenburg-Vorpommern, haben seit 2008 keinen einzigen Fall zu vermelden. Andere, wie Schleswig-Holstein, führen überhaupt keine Statistik über Fälle mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch.

Ein blinder Fleck: In Deutschland fehlen Beratungsangebote und Beschwerdestellen

Dass so wenige Missbrauchsfälle im Medizinbetrieb erfasst werden, hat noch einen anderen Grund: Es fehlen spezialisierte Angebote für Betroffene. 2,2 Millionen Menschen gehen jeden Tag zum Arzt. Doch es gibt keine einzige länderübergreifende staatliche Anlaufstelle für Patient:innen, die von Missbrauch oder sexualisierten Übergriffen berichten wollen.

Viele der Betroffenen erzählen BuzzFeed News, dass sie im Internet recherchiert haben, um zu verstehen, ob das Verhalten ihres Arztes überhaupt strafbar ist. Und dass sie erst durch Fachartikel verstanden hätten, wer ihnen weiterhelfen kann.

Als erste Ärztekammer in Deutschland hat die Landesärztekammer Hessen seit einigen Jahren eine Ombudsstelle für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen eingerichtet. Bei Ombudsmann Meinhard Korte rufen Ratsuchende aus ganz Deutschland an. 

Expert:innen sagen, dass der Missbrauch durch Ärzte und Psychotherapeuten für die Opfer oft so schwere psychische Folgen hat wie Kindesmissbrauch. Der Bruch des ärztlichen Vertrauens hinterlässt tiefe Spuren, weil Menschen, die zu „den Guten“ gehören sollten, eine Notlage ausnutzen. 

Es ist nicht so, dass die #MeToo-Bewegung am Medizinbetrieb spurlos vorbeigezogen wäre. Der Deutsche Ärztetag etwa forderte vor knapp zwei Jahren, Mitarbeiter:innen und Patient:innen besser vor sexueller Belästigung zu schützen. Doch auf Anfrage kann die Bundesärztekammer nicht sagen, was sich seitdem verändert hat und verweist auf die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Letztere schreibt auf Anfrage, dass derzeit an neuen Schutzkonzepten gearbeitet werde, um vulnerable Gruppen besser zu schützen.

*BuzzFeed News Deutschland ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

Die Recherche ist gefördert durch die Otto Brenner Stiftung, den Journalismfund.EU und das „Publication Support Scheme“ von Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) in Zusammenarbeit mit dem International Press Institute (IPI), European Journalism Centre (EJC) und dem European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF). IJ4EU und alle Partner der Förderung sind nicht verantwortlich für den veröffentlichten Inhalt und jedwede Weiterverwendung.

Dies ist der Auftakt zu einer mehrteiligen, internationalen Recherche zu Missbrauch in der Medizin. Weitere Texte erscheinen bei BuzzFeed News Deutschland sowie in weiteren Medien auf französisch, italienisch, kroatisch und englisch. Alle deutschen Beiträge veröffentlichen wir in den kommenden Monaten auf buzzfeed.de/recherchen.

Haben Sie Hinweise oder wollen Sie uns Informationen zu diesem Thema zusenden? Dann schreiben Sie an: recherche@buzzfeed.de oder melden Sie sich direkt bei unseren Reporterinnen unter juliane.loeffler@buzzfeed.de / 0170 - 70 60 140 oder mrsbettoni@gmail.com.

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