Corona-Welle erfasst China: Experten rechnen mit einer Million Toten
China steht vor einem düsteren Winter – und einem gigantischen Superspreader-Event: Corona hat das Land fest im Griff, die Regierung aber verharmlost die Gefahr.
München/Peking – Sieben Tote: Das ist Chinas offizielle Bilanz, seit das Land vor knapp zwei Wochen seine Null-Covid-Politik überraschend beendet hat und sich entschied, dem Virus freien Lauf zu lassen. Am Montag vermeldeten die Behörden die ersten beiden Todesfälle, einen Tag später fünf weitere. Es sind Zahlen, denen in China allerdings kaum jemand Glauben schenkt. Wie dramatisch die Lage in Wirklichkeit ist, offenbart hingegen ein Blick in die sozialen Medien: Da werden Bilder aus Pekings Stadtbezirk Tongzhou geteilt, auf denen zu sehen ist, wie sich Leichenwagen vor einem Krematorium stauen. Oder Videos, die lange Schlangen vor einem Krankenhaus in Shanghai zeigen. Und vor allem persönliche Geschichten: vom Großvater, der verstorben ist, nachdem er sich infiziert hat – oder von Menschen mit Fieber, die vor leer gekauften Apotheken stehen und nicht wissen, was sie tun sollen.
In Chinas Großstädten scheint sich binnen weniger Tage ein großer Teil der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert zu haben. Manche Firmen melden, dass 90 Prozent ihrer Beschäftigten krank seien, in vielen Krankenhäusern fehlt das Personal. Die Stadt Chongqing sah sich am Montag sogar veranlasst, „leicht symptomatische“ Staats-, Partei- und Regierungsmitarbeiter wieder zur Arbeit zu schicken. Auch beim Apple-Zulieferer Foxconn schleppen sich Berichten zufolge die Menschen mit Fieber in die Fabriken.
Der Erreger hat leichtes Spiel in einer Bevölkerung, in der sich keine Herdenimmunität aufbauen konnte und die eine relativ geringe Impfquote aufweist. Zudem liegt bei vielen Chinesen die letzte Impfdosis mehrere Monate zurück. Hunderttausende, vielleicht ein paar Millionen, dürften sich derzeit jeden Tag anstecken. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, Chinas Gesundheitsbehörde meldet derzeit nur wenige Tausend Fälle täglich. Und jeder weiß, dass das nicht stimmen kann.
Corona in China: Karl Lauterbach sieht „sehr besorgniserregende Lage“
Es ist erst der Anfang einer Welle, die immer gewaltiger wird. „Sehr besorgniserregende Lage in China“, schrieb am Dienstag Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bei Twitter über einen Tweet des Epidemiologen Eric Feigl-Ding. Der US-Wissenschaftler hatte ein Video von einem völlig überfüllten Krankenhauszimmer geteilt, in dem mehrere Menschen beatmet werden. „Todesfälle wahrscheinlich in Höhe von mehreren Millionen“, prognostizierte Feigl-Ding. Wann und wo das Schock-Video aufgenommen wurde, lässt sich nicht verifizieren, zudem ist Feigl-Ding in den USA nicht unumstritten. Allerdings sagen auch andere Prognosen für China eine besorgniserregende Entwicklung voraus.
Eine Modellierung der Universität Hongkong etwa rechnet im Extremfall mit fast einer Million Toten. Sollte China mit seiner Öffnungspolitik fortfahren, ohne geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen, würden pro eine Million Einwohner 684 Menschen sterben, so die Wissenschaftler. Bei einer Gesamtbevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen wären das rund 965.000 Todesopfer. Noch könne die Regierung das schlimmste allerdings verhindern, heißt es in der Studie. Entscheidend sei „ein mehrgleisiger Ansatz, der Impfung, antivirale Behandlung, Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und im sozialen Bereich sowie eine schrittweise Wiedereröffnung umfasst“. Tatsächlich werden im ganzen Land Krankenhäuser aus dem Boden gestampft, es werden neue Intensivstationen eröffnet. Was fehlt, ist gut ausgebildetes Personal. Das geben mittlerweile sogar die Staatsmedien zu.
Das Gegenteil einer „schrittweisen Wiedereröffnung“ verkündete am Montag die Hauptstadt Peking. Das Virus breite sich „rasant“ aus und setze das Gesundheitssystem unter Druck, sagte ein Sprecher der Stadt – und erklärte gleichzeitig, dass die Corona-Maßnahmen trotzdem weiter gelockert würden. So können in Peking nun auch Bars, Fitnessstudios und Karaokeclubs wieder öffnen, zudem wurden Urlaubsreisen in die Hauptstadt erlaubt.
Wird Chinas Frühlingsfest zum Superspreader-Event?
Nachdem sich Chinas Städte und Provinzen in den drei Jahren der Null-Covid-Politik gegenseitig mit Knallhart-Maßnahmen überboten hatten, scheint nun ein Wettbewerb ausgebrochen zu sein, wer die Vorgaben der Zentralregierung am schnellsten umsetzt und am weitesten lockert. Befeuert wird Chinas ungeduldige Rückkehr zur Normalität von einer staatlichen Propaganda, die nach den Protesten von Ende November eine erstaunliche Kehrtwende hingelegt hat. Noch vor wenigen Monaten betonten die Gesundheitsbehörden des Landes, man dürfte die Gefahren durch die Omikron-Variante nicht herunterspielen, heute erklärt der Regierungsberater Zhong Nanshan, man solle Covid-19 einfach „Corona-Erkältung“ nennen. Irrationale Panikmache ist gefährlichem Verharmlosen gewichen.
Ende Januar könnte sich zeigen, welch bittere Rechnung China für seine planlose Öffnungspolitik zahlen muss. Dann begeht das bevölkerungsreichste Land der Erde seinen wichtigsten Feiertag, das Frühlingsfest. Es dürfte, mitten im Winter, ein Superspreader-Event werden: Vor Beginn der Pandemie machten sich jedes Jahr rund 400 Millionen Menschen auf den Weg zu ihren Familien und Freunden, um gemeinsam ins Chinesische Neujahr zu feiern. Viele fahren von den Städten zurück aufs Land, zu den Eltern oder Großeltern und damit zu den besonders gefährdeten Teilen der Bevölkerung und in Regionen mit einem nur schwach ausgebauten Gesundheitssystem.

Mit einer Impfkampagne will die Regierung das Schlimmste verhindern. Derzeit sind nur rund 40 Prozent der über 80-Jährigen in China dreifach geimpft, seit Kurzem wird mit einer landesweiten Kampagne für die vierte Spritze geworben. Doch bei vielen Chinesen ist die Skepsis gegenüber den Made-in-China-Vakzinen groß. Und überhaupt: Warum sollte man sich ausgerechnet jetzt impfen lassen, wo der Staat doch versichert, das Virus sei nicht gefährlicher als eine Grippe?