„Pervers, zynisch und manipulativ“: EU-Abgeordnete Viola von Cramon berichtet von Putins „brutaler“ Propaganda
Die EU-Politikerin Viola von Cramon (Grüne) glaubt, „dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird“. Wann das passiert, das habe aber auch Deutschland in der Hand.
Vor fast genau zwei Monaten begann der grausame Ukraine-Krieg. In Städten wie Butscha und auch Mariupol wurden Massengräber gefunden, die auf hunderte zivile Opfer hinweisen. Manche fragen sich, ob die Ukraine vielleicht sogar vor einem ethischen Dilemma zwischen weiterkämpfen und aufgeben steht. Seit Wochen diskutieren Politiker:innen darüber, ob Deutschland mehr Waffen an die Ukraine liefern soll oder nicht. Einige, wie Anton Hofreiter (Bündnis90/Grüne) sagten der Funke-Mediengruppe, dass der Krieg sich noch länger hinziehen könnte, wenn Deutschland nicht bald schwerere Waffen liefere. Klar ist: Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, umso deutlicher beginnt auch die Einheit der EU zu bröckeln, worüber wir mit EU-Parlamentsvize Barley in einem Interview gesprochen haben.
Der Druck auf den Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) steigt also kontinuierlich, denn er spricht sich bisher gegen die Lieferung schwerer Waffen aus und bekommt auch dafür Zustimmung aus seiner Partei, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtete. Jetzt hat die Union (CDU/CSU) angedroht, kommende Woche im Bundestag einen Antrag auf schwere Waffen zu stellen, wenn Kanzler Scholz seine Meinung nicht ändere. Der Europa-Experte Gunther Krichbaum (CDU) sagte der Bild: „Das Wegducken von Scholz hilft nur Russland“, und wird in dieser Meinung auch von Mitgliedern der FDP bestätigt.
Warum sind Waffenlieferungen an die Ukraine jetzt im Moment so wichtig?
Laut der dpa hat Deutschland hat zwar Waffen in die Ukraine geschickt, hält sich bei schwerem Gerät wie Panzern und Artilleriegeschützen aber zurück. Momentan sei ein Waffentausch mit Slowenien angedacht, bei dem das Land T72-Panzer an die Ukraine abgibt und dafür deutsche Schützen- und Radpanzer erhält. In der Sendung „Maybrit Ilner“ vom Donnerstag (21. April 2022) spricht die Ukrainerin Marina Weisband (Bündnis90/Grüne) davon, dass Putin einen Sieg zum 9. Mai brauche, weshalb es enorm wichtig sei, dass die Ukraine jetzt Waffen erhalte, um sich bis dahin zu verteidigen.
Die Grünen-Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel sitzt seit 2019 für die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament und leitet dort stellvertretend eine Delegation, die sich mit der Ukraine beschäftigt. BuzzFeed News Deutschland hat mit ihr darüber gesprochen, warum Putin den Ukraine-Krieg schon so gut wie verloren hat, Deutschland Waffen liefern sollte und welche Rolle russische Desinformation in diesem Krieg spielt.
Frau Cramon, In einer EU-Debatte im März sagten Sie, dass Putin den Krieg bereits verloren habe. Was meinen Sie damit?
Also ich glaube nicht, dass Putin den Krieg gewinnen wird. Es ist nur die Frage: Mit welchen Kosten wird die Ukraine gewinnen. Und vor allem wann. Genau das werfe ich der Regierung in Berlin vor: Wir in Deutschland tragen auf jeden Fall nicht dazu bei, dass die Ukraine den Krieg schnell gewinnt und die Opferzahlen niedrig bleiben. Wir im Westen stellen uns hin in unserer Friedens-verliebten Wirklichkeit und denken, wir könnten alles mit Kommunikation lösen. Wir definieren einfach, wo es vermeintliche „rote Linien“ gibt, die wir dann nicht übertreten.
Was sind die „roten Linien“, die die Bundesregierung nicht übertreten will?
Das Hauptproblem ist, dass immer noch zwischen Defensiv- und Offensivwaffen unterschieden wird. Die Ukraine braucht momentan alles, was sie kriegen kann, um den Angriff der russischen Truppen abzuwehren. Die Bundeswehr muss flexibler werden und eben auch mal Waffen oder Fahrzeuge für einige Monate abgeben. Außerdem könnte Deutschland eine viel aktivere Rolle in der Koordination der Waffenlieferungen einnehmen. Es gibt viele Länder, wie Tschechien oder die Slowakei, die Waffen abgeben würden. Aber niemand geht auf diese Länder zu. Das kurioseste Argument ist aber immer noch, dass die Ukrainer die Waffen nicht bedienen könnten. In Deutschland werden immerzu Gründe gesucht, warum Dinge nicht gehen.
Leben Bundeskanzler Scholz und die SPD zu sehr in dieser „Frieden-verliebten Wirklichkeit“, wie sie eben beschrieben haben?
Ja natürlich. Ich meine, selbstverständlich wollen wir alle Frieden. Aber die Maßnahmen, die Scholz ergreift, sind in der aktuellen Zeit einfach nicht die wirksamsten. Es geht gerade darum, dass eine europäische Nation vernichtet wird. Da können wir uns nicht einfach aus der Verantwortung ziehen. Olaf Scholz will Putin nicht verärgern, aber das bringt nichts, den Putin hat die Eskalationsdominanz: Er bestimmt, was ihn ärgert, nicht die deutsche Regierung. Am Ende muss es darum gehen, der Ukraine zu einem Sieg zu verhelfen, da bringt uns falsche Rücksichtnahme nichts.
Gibt es noch andere Maßnahmen, die Deutschland oder die EU ergreifen können, um der Ukraine im Krieg gegen Russland zu helfen?
Erst heute hatte ich eine Konferenz mit ukrainischen Politikern. Die haben noch einmal deutlich gemacht, dass viele der Sanktionen, die der Westen gegen Russland verhängt, nicht vollständig umgesetzt werden. Es fehlt entweder die technische Voraussetzung oder Firmen umgehen die Maßnahmen einfach. Immer wieder diskutieren wir, ob solche Sanktionen die russische Bevölkerung zu sehr belasten. Aber durch die russische Propaganda geht der Krieg an der russischen Bevölkerung völlig vorbei. Erst, wenn sie wirklich finanziell betroffen sind, steigt der Druck auf den Kreml.
Sie beschäftigen durch ihre Arbeit in der Ukraine-Delegation auch mit russischer Desinformation. Wie kann man sich Putins Propaganda vorstellen?
Die ist ganz brutal. Ich habe letztens in Bulgarien russisches Fernsehen geschaut: Man kann es kaum ertragen. Es ist so verdreht, pervers, zynisch und manipulativ. Das Skurrilste ist, dass sich die Informationen regelmäßig widersprechen. Ein Beispiel ist der Untergang des Kriegsschiff „Moskwa“ nahe Odessa. Auf der einen Seite haben russische Medien behauptet, das Schiff wäre aufgrund eines Sturms und einem Feuer untergegangen, obwohl es eigentlich zwei ukrainische Raketen waren. Auf der anderen Seite wurde der Vorfall später erbost als Kriegserklärung der Ukrainer präsentiert.
Und solche widersprüchlichen Botschaften nehmen die Russ:innen Putin ab?
Es ist erschreckend, wie solche Informationen sich bei den Menschen festsetzen. Was besonders gefährlich ist, ist Putins Narrativ, dass jeder, der sich als Ukrainer bezeichnet, ein Nazi sei. Sogar in Bulgarien habe ich mit Menschen gesprochen, die auf dieses pseudohistorische Narrativ aufgesprungen sind. Dieses Bild müssen wir aus den Köpfen der russischen Menschen herausbekommen. Und wir in Deutschland haben da eine Verantwortung – besonders bei uns sollten die Alarmglocken klingeln.
Sie waren erst kürzlich in der Ukraine, haben Butscha und Irpin besucht und sich ein Bild von den Kriegsverbrechen gemacht. Hat das Ihre Meinung zu Waffenlieferungen noch einmal bestärkt?
Ich war nie in Srebrenica, aber hatte auch im Kosovo schon mit Regionen zu tun, die Völkermord und Vergewaltigungen erleben mussten. Aber ich hatte so gehofft, dass Zivilisten so etwas nicht noch einmal erleben müssen. Was die Forensiker uns in Butscha gezeigt haben – das war unfassbar. Im Krieg geht es normalerweise darum, militärische Ziele auszumachen. Russland macht das Gegenteil davon und geht gegen die Zivilisten vor. Da werden Babys vergewaltigt und Männer vor ihren Frauen erschossen – das schlimmste, das man sich vorstellen kann. Ich verstehe nicht, wie man da bei weiteren Unterstützungsmaßnahmen zögern kann.
Schon lange bevor der Krieg in der Ukraine begann, haben Sie vor der Aggression Russlands gewarnt. Frustriert es sie, dass das bis jetzt offenbar nur wenige interessiert hat?
Ich glaube eben, wir müssen aufhören zu sagen: Oh, das kam jetzt alles sehr überraschend. Seit über einem Jahr hat Putin Truppen an der Grenze der Ukraine versammelt. Er hat die Zerschlagung der Gesellschaft, der Medien, der Opposition, seitdem er im Amt ist, sehr, sehr systematisch betrieben. Er finanzierte auch jahrelang diverse antieuropäische Parteien und hatte enge Beziehungen zu Marine Le Pen und italienischen Faschisten. Auch bei den Geldspenden an die Alternative für Deutschland (AfD) war er beteiligt. Wladimir Putin hatte schon immer ein Interesse daran, Europa zu destabilisieren.
Hat Deutschland zu viel Angst vor Putin, um der Ukraine zu helfen?
Das Problem ist wahrscheinlich, dass unsere Regierung einfach noch nicht genau weiß, wie sie mit Putin umgehen soll. Mit Robert Habeck war ich gemeinsam in der Ukraine und bei ihm hatte ich das Gefühl, er hat ganz gut verstanden, was Putins Ambitionen sind. Aber ein grünes Ministerium ist eben nicht sofort grün. Da sind 2100 Mitarbeiter, die aus alten Gewohnheiten Empfehlungen aussprechen, die Russland-nah sind. Wir müssen herausfinden, wie Putin tickt und wie wir uns ihm glaubwürdig entgegenstellen können, ohne eingeschüchtert zu werden. Ich glaube, das ist in der Tiefe noch nicht bei allen angekommen.