Soziales Pflichtjahr ist gute Idee, denn wer „versucht Zeit zu sparen, hat am Ende weniger davon“
Wir alle denken, wir haben zu wenig Zeit. Stimmt, sagt ein Professor für nachhaltigen Konsum. Doch ein soziales Pflichtjahr, wie Steinmeier es will, könnte da sogar helfen.
Wer Momo gelesen hat, weiß, dass Zeit eine kuriose Sache ist. Mal vergeht sie schnell, mal zieht sie sich wie knallroter Hubba-Bubba-Kaugummi, in den man gerade mit den weißen Sneakern reingetreten ist. In unserer heutigen Zeit ist vor allem eine Sache auffällig: Wir alle haben keine Zeit. Deswegen lesen wir Bücher nur noch bei Blinkist, was Autor:innen problematisch finden, stehen um fünf Uhr morgens auf, um das erfolgreiche „#ThatGirl“ zu sein, und wünschen uns nichts mehr als eine 4-Tage-Woche, vor der manche Ökonomen sogar warnen.
Zeit ist knapp und ist in unserer schnelllebigen Welt nicht weniger als eine besondere Art des Geldes. Das finden zumindest diverse Organisationen in der Schweiz und Österreich und haben Zeitbanken ins Leben gerufen. Wer beispielsweise für seine älteren Nachbarn einkaufen geht, oder auf Kindern aufpasst, bekommt diese Zeit auf seinem Konto gutgeschrieben. Diese Zeit kann eingelöst werden, bedeutet, andere übernehmen später einmal Aufgaben für ihn oder sie. Ein wenig erinnert das Konzept des „Time Bankings“ an das soziale Pflichtjahr, das Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Anfang November erneut zur Sprache brachte.
Es brauche neue Modelle, wie Jung und Alt miteinander ins Gespräch kommen könnten, sagte er laut Deutscher Presse-Agentur (dpa). Schon im Juni hatte er ein Pflichtjahr vorgeschlagen, bekam damals aber die Kritik, ein Pflichtdienst sei Ausbeutung durch die Hintertür, um mehr Arbeitskräfte für die Pflege zu erschleichen. Anstatt jungen Menschen von ihrer Lebenszeit etwas wegzunehmen, sollten lieber die Berufe attraktiver gemacht werden, in denen es Personalnot gebe, hieß zum Beispiel von dem Drittel der Deutschen, die das Pflichtjahr nicht befürworten (siehe Video oben).

Soziales Pflichtjahr ist laut Experte für nachhaltigen Konsum „eine gute Idee“
Ulf Schrader ist Professor für nachhaltigen Konsum an der Technischen Universität (TU) Berlin. Er beschäftigt sich mit Zeit und vor allem auch mit deren subjektivem Empfinden. Jungen Menschen würde bei einem sozialen Pflichtjahr weniger Zeit weggenommen werden, als gegeben, sagt er gegenüber BuzzFeed News DE von IPPEN.MEDIA. Denn: „In einem sozialen Pflichtjahr würde man zu Ineffizienz gezwungen. Das führt vielleicht dazu, dass das subjektive Empfinden der eigenen freien Zeit wächst.“
Er selbst habe den Zivildienst gemacht, wurde also gezwungen, kostbare Lebenszeit zu „verschwenden“. „Diese entschleunigte Zeit war rückblickend das Beste, was mir passieren konnte“, sagt Schrader. „Ein soziales Pflichtjahr ist deswegen eine gute Idee. Manchmal ist es gut, etwas zu machen, was nichts mit Karriere zu tun hat.“ Aber warum das? Schrader erklärt, es habe mit sogenannten „Zeit-Rebound-Effekten“ zu tun.
In einem sozialen Pflichtjahr würde man zu Ineffizienz gezwungen. Das führt vielleicht dazu, dass das subjektive Empfinden der eigenen freien Zeit wächst.

Zeitwohlstand in Deutschland: Fast niemand hat das Gefühl, genug freie Zeit zu haben
Der Ökonom war Teil des Forschungsprojektes „ReZeitKon“, das sich drei Jahre lang mit subjektiven Zeit-Rebound-Effekten beschäftigte. Zeit-Rebound-Effekt bedeute, dass der eigene Zeitwohlstand schrumpfe, wenn man Dinge möglichst effizient mache, weil man freie Zeit im Kalender sofort mit weiteren Aktivitäten fülle. „Bei energiesparenden Produkten kennt man diesen Effekt: Man setzt sie öfter ein und verbraucht am Ende genauso viel oder sogar mehr Energie“, erklärt Schrader.
Bei einem Strandspaziergang habe er die Idee zum Zeit-Rebound-Projekt gehabt: „Mir wurde wieder klar: Wer versucht, Zeit zu sparen, hat am Ende weniger davon.“ Menschen, die also besonders viel Multitasking machen, hätten weniger Zeitwohlstand. „Zumindest gefühlt, denn eigentlich ist Zeit unsere einzige demokratisch gleich verteilte Ressource“, merkt Schrader gegenüber BuzzFeed News DE an. In der Theorie jedenfalls, denn reiche Menschen könnten sich mit Geld auch Zeit erkaufen, so wie Anna Sorokin, die lieber 160 Dollar für ein Uber zahlt, als die U-Bahn zu nehmen.
Das Wichtigste für Zeitwohlstand sei das „subjektive Empfinden von freier Zeit“. Und das sei in Deutschland nicht gerade stark ausgeprägt. Hier habe fast niemand das Gefühl, dass er oder sie genug freie Zeit habe, sagt Schrader. Besonders Frauen nicht, die immer noch mehr Care-Arbeit erledigen, als Männer. Er und sein Forschungsteam haben einen Zeitwohlstandsrechner erstellt, bei dem man die eigene Zeitnot analysieren kann. Als ich ihn frage, ob er mir mein eigenes Ergebnis erklärt, meint Schrader, ich würde besonders viel zeiteffiziente Taktiken anwenden, also Dinge schneller erledigen, um dann mehr freie Zeit mit neuen Tätigkeiten zu füllen. Autsch.
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„Wir müssen uns mehr mit Zeit als Ressource auseinandersetzen“
Der Experte für nachhaltigen Konsum findet eine seiner Studien besonders interessant. Das Forschungsteam von „ReZeitKon“ habe im Februar 2020 abgefragt, was die Menschen machen würden, wenn sie eine Stunde mehr Zeit hätten. Die häufigste Antwort: damals: mehr schlafen. „Dann kam die Pandemie und wir haben nach ein paar Monaten noch einmal gefragt. Nur wenige gaben an, die freigewordene Zeit auch tatsächlich fürs Schlafen genutzt zu haben“, sagt Schrader gegenüber BuzzFeed News DE.
„Zeitwohlstand hat konträre Effekte: Einerseits haben wir mehr Zeit, ökologischer zu leben, andererseits füllen wir die Zeit mit Dingen, die ganz und gar nicht nachhaltig sind.“ Wir reisen beispielsweise mehr, scrollen mehr auf Instagram oder in der BeReal-App, die unsere Autorin 4 Wochen lang getestet hat. „Wir müssen uns mehr mit Zeit als Ressource auseinandersetzen. Schon in der Schule sollten Kinder lernen, wie man die wichtige und knappe Ressource Zeit im Sinne der eigenen Bedürfnisse und zum Wohle anderer einsetzen kann“, sagt Schrader.
Weil mehr Zeit nicht unbedingt mehr Zeitwohlstand bedeutet, sondern es so wichtig sei, was man mit der eigenen Zeit tue, sei das Pflichtjahr in seinen Augen auch eher ein zeitlicher Gewinn als Verlust. Auch Zeitbanken seien spannend, weil sie die Ressource Zeit zu einer Art Geld machen. „Aber ich würde den Teufel tun, da meine eigene knappe Zeit ohne Sicherheit für die Altersvorsorge zu investieren. Vielleicht bräuchte es da eine Art Zeit-Anlagensicherung“, lacht Schrader.
Zeitwohlstand hat konträre Effekte: Einerseits haben wir mehr Zeit, ökologischer zu leben, andererseits füllen wir die Zeit mit Dingen, die ganz und gar nicht nachhaltig sind.